Roman über Punks der 90er: Nochämo uff die Fress?
Tijan Silas „Krach“ erzählt vom Erwachsenwerden eines jungen Manns, der mit seiner pfälzischen Punkband 1998 durch den Osten Deutschlands tourt.
Ein Mann, der über bescheidene intellektuelle Kapazitäten verfügt, kann problemlos Regisseur, Redakteur, Professor oder Romancier werden, wenn er nur „aus gutem Hause“ kommt. Eine Frau aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kann ein noch so helles Licht sein, zuerst wird sie sich selbst überzeugen müssen, dass sie erfolgreich ein Studium abschließen kann und wird. Auch wenn ihr das weder die Eltern noch deren Freunde vorgemacht haben.
So verhält es sich mit Ursel in Tijan Silas neuem Roman „Krach“. Sie ist die Klügste in ihrer Klasse. Aber nach dem Abitur wird sie Friseurin und Leaderin der Punkband Pur Jus, wo sie Gitarre spielt. Ihr Bruder Beppo sitzt bei Pur Jus am Schlagzeug. Bassist der Band ist der stille Pirmin.
Wenn die anderen ihn in die Russenecke stellen, um ihn zu ärgern, erklärt er eins ums andere Mal, sein Clan lasse sich bis zu Bad Dürkheimer Mennoniten aus dem 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Der Fünfte im Bunde ist Gansi, und wir dürfen vermuten, dass er die Rhythmusgitarre spielt, denn Ursel ist ja der Chef, oder auch: „der Band-Hitler“.
Gansi erzählt uns in „Krach“ seine Geschichte. Es ist die Geschichte eines jungen Manns, der sich zwar nicht findet, wer kann das schon, aber am Ende des Romans weniger fremd ist als am Anfang.
Tijan Sila: „Krach“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 272 Seiten, 20 Euro
Dritter Roman
„Krach“ ist Tijan Silas dritter Roman, noch besser, noch unterhaltsamer als „Tierchen Unlimited“ und „Die Fahne der Wünsche“. Er spielt im Deutschland des Jahres 1998, in einer fiktiven pfälzischen Kleinstadt namens Calvusberg, deren Straßen in Wirklichkeit in Landau, Kaiserslautern und Pirmasens liegen, wie Tijan Sila am Telefon erzählt.
Er lebt und arbeitet in Kaiserslautern als Berufsschullehrer, er hat noch heute mit jungen Männern zu tun, wie er selbst einmal einer gewesen ist. In den späten Neunzigern hat er wie sein Erzähler in einer Punkband gespielt, sie hieß Atlas Lanze. Inzwischen hat er eine neue Band namens Korrekte Drinks und sieht immer noch aus wie ein Punk.
Damit ist nicht das Klischee von Lederjacke und Iro gemeint, sondern ein körperbetonter, schnittiger Style mit einer Kurzhaarfrisur, über den Ohren ausrasiert. Jacken trägt Tijan Sila stets bis unters Kinn zugeknöpft. Auch für unsere Videoschalte via Smartphone.
Dass ein Kleinstadtpunk drei Namen trägt, dürfte nicht außergewöhnlich sein. Der Ich-Erzähler von „Krach“ heißt mit Vornamen Sabahudin. So steht’s in seinem Ausweis, aber niemand nennt ihn so. Gansi wird er in der Schule und von seinen Freunden gerufen. Die Familie nennt ihn Budo, mit langem u und kurzem o.
Die Hadžijalijagićs
Gansis Nachname, Hadžijalijagić, ist ein Witz seines Erfinders, der anscheinend länger darüber gegrübelt hat, wie er möglichst viele Silben, den stimmhaften postalveolaren Frikativ (so heißt das wirklich) – ž – und die stimmlose alveolopalatale Affrikate – ć – in einem übertrieben jugoslawisch klingenden Namen unterbringen kann, der deutsche Zungen zum Stolpern bringt – abgesehen von derjenigen Mareikes, der Frau seines großen Bruders, die ihn akzentfrei aussprechen kann, weil er nun ihr eigener ist.
Mit ein bissl Verstand („bissl“ ist das Wort, das diesen Roman sprachlich wie kein anderes auf den Punkt bringt, dazu später mehr) kann man aber aus diesem Namen schon den Hadschi und einen Ali herauslesen. Die Hadžijalijagićs sind eine bosnische Familie.
Aber der Balkan wäre nicht der Balkan, wenn die Verhältnisse so einfach wären. Es finden sich auch Kroaten und Serben in der Verwandtschaft, und wenn Gansi wegen des Genozids der Zorn packt, wünscht er sich, er „könnte ihr Blut aus meinem filtern“. Am nächsten Tag schämt er sich für diesen Wunsch. Mit nationaler Identität hat er es eh nicht: „Mein Volk sind die Coolen!“
Mustermigrant
Gansi ist Teenager. Er tut sich schwer, die Liebe zu seinen beiden kleinen Zwillingsschwestern in einer anderen Form von Zärtlichkeit zu bekunden, als die beiden „Wanzen“ zu nennen. Gansi ist in Deutschland geboren, anders als sein Autor (und anders als Gansis großer Bruder, ein Mustermigrant mit abgeschlossenem Medizinstudium).
Darauf weist Tijan Sila, der 1981 in Sarajevo zur Welt und mit 13 nach Deutschland kam, im Gespräch ausdrücklich hin. Es ist eines der Details, mit denen er seine Figur von der eigenen Biografie distanziert. Freunde, erzählt er, hätten seine eigenen Charakterzüge deutlicher in Ursel entdeckt.
Atlas Lanze, Tijan Silas Band, hatten Auftritte in Jugendzentren in West und Ost. Jenseits der Zonengrenze hieß das hin und wieder auch, eine Nacht in einem verbarrikadierten besetzten Haus verbringen zu müssen, weil auf der Straße eine Horde von Glatzen mit Baseballschlägern darauf aus war, ein paar Zecken zu klatschen.
Tijan Sila hat diese Erfahrungen seinem Gansi mitgegeben, der mit Pur Jus in Gera, Heidenau und Weißwasser spielt und sich an einer Stelle des Romans wundert, warum die Polizei nicht kommt.
Geschichte eines failed states
In dieser unbeantworteten Frage wird die Geschichte Ostdeutschlands als diejenige eines failed states erzählt, in der die Exekutive launische Entscheidungen darüber trifft, wann es die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen gilt – und wann ihr Recht und Ordnung egal sind. Ein Kommunistenpunk erklärt den Pfälzern, „ein besetztes Haus in Sachsen könne nur überleben, wenn es so abgelegen sei, dass ein Überfall den Faschos zu umständlich vorkomme“.
Gansi nimmt vor keiner Schlägerei Reißaus, oft bleibt ihm aber auch gar nichts anderes übrig, als sich zu stellen. Im Roman kommt es, wie einst in der deutschen Provinz, alle Naslang zu Schlägereien, oft mit Faschos und Hools, und in Folge zu gespaltenen Lippen und anderen Blessuren. Einmal hat Gansi sogar Angst, er könnte jemand getötet haben.
Tijan Sila versteht es, diese Szenen so zu gestalten, dass sie nicht pornografisch wirken, sondern wie Slapstick, ohne ihnen den Ernst zu nehmen. Gansi fürchtet Gewalt, aber er genießt sie auch, weil sie rauschhaft ist und er im Moment des Kampfs bei sich.
Pur Jus spielen zwar in linken Jugendzentren und antirassistisch sind sie auch, was aber nicht heißt, dass sie mit linken Studenten keine Probleme hätten. Ursels älterer Bruder Uwe ist ein Nazihool, von dem sich Ursel aber nicht abwendet, weil sie weiß, dass er das Trauma des frühen Verlusts der Mutter nicht überwinden kann.
Zecken verabscheuen Dialekte
Einem Punk, der schlecht über Ursels Bruder redet, um sie zu demütigen, droht Gansi: „Wie siehts aus? Will einer von euch Tschukkekahlern heit Ohwed nochämo uff die Fress?“ Und verrät dem Leser: „Ich wusste, dass Zecken Dialekte verabscheuten – Dialekte zeugten von Heimatbewusstsein, was Linke jedoch nur Menschen aus Berlin und Hamburg gestatteten.“
Über den Hinweis eines Studenten, „violent däncing“ sei „Ausdruck androzentrischer Körperpolitik“, können Pur Jus nur lachen. Am Telefon sage ich Tijan Sila, dass ich auch oft gelacht habe beim Lesen. Wenn etwa Gansi wegdöst und das so erklärt: „Sex und Kuchen halt.“ Oder wenn Österreicher als „Gartenzwerge des Tätervolks“ bezeichnet werden. Tijans knappe Antwort: „Klar, du bist ja auch kein Österreicher.“
Gansi und seine Freunde reden weder politisch korrekt, noch sprechen sie reines Hochdeutsch. Tijan Sila hat für diese Gang eine Sprache erfunden, die in ihrer Mischung aus Slang und Dialekt hochliterarisch ist, in der so wahrhaftige Sätze wie dieser fallen können: „Der Scheiß quälte mich dermaßen, dass ich sogar mit dem Wichsen aufgehört hatte.“ Selbst in dieser hypervirilen Pose zeigt uns Sila seinen Protagonisten als sensiblen jungen Mann, der seine Gefühle nicht verdrängt, sondern sie sich eingesteht.
Leute, die ihnen nicht passen, werden von den Calvusberger Punks als Tschukkekahler beschimpft, und wer ein paar Wörtern des Jenischen mächtig ist, ahnt, dass das Hundefresser bedeutet. Zwar erklärt der Autor die Bedeutung des Worts, aber nicht seine Herkunft. Franzosen heißen bei den Calvusbergern Wackes, Sinti aber „Zigeuner“.
Letzteres gewöhnt sich Gansi schnell ab, weil er sich in Katja Hurlebaus verliebt, Tochter eines Franzosen und einer Sinteza. Er versteht sofort, dass Schluss mit lustig ist, wenn Menschen sich durch Sprache verletzt fühlen.
Woke Mischpoke
Trotz aller sprachlicher Drastik sollte auch die woke Mischpoke diesen Roman goutieren können. Seine Sensibilität unterscheidet Gansi von Leuten, die er als „gewöhnlichstes Klischee deutscher Gymnasiasten“ identifiziert: „Verbiesterte Wichser aus guten Elternhäusern, die gerne Schwächere demütigten.“
Was sagt uns „Krach“? Es gibt keine Chancengleichheit in Deutschland. Aber weder Herkunft noch Klasse sind Schicksal. Punk ist für alle, die unsichtbare Grenzen überwinden müssen, um dorthin zu kommen, wo sie hingehören.
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