Roman über Migration: Die Erfahrungen der anderen
„Die goldene Stunde“ von Wytske Versteeg ist ein vielschichtiger Roman über Flucht und Trauma. Der Kern seines Erzählens ist Empathie.
Gerade hat die EU das Asylrecht massiv verschärft, „illegale Migration“ ist in aller Munde – die Sprache des politischen Diskursesist kalt und macht die einzelnen Menschen unsichtbar. Das Gegenteil unternimmt die niederländische Autorin und Politikwissenschaftlerin Wytske Versteeg in ihrem neuen Roman „Die goldene Stunde“. Mit literarischen Mitteln macht sie sichtbar, was Krieg und Flucht für einen bedeuten, der beides erleben muss. Doch beschränkt sich ihr Buch nicht darauf.
Versteeg verbindet drei Perspektiven miteinander: die der Sozialarbeiterin Mari, die sich für Geflüchtete engagiert und hofft, Ahmad „retten“ zu können; die glaubt, die Beziehung zum wesentlich jüngeren Mann könne trotz seiner Distanz eine Zukunft haben.
Die Sicht Ahmads auf seinen Aufenthalt in den Niederlanden und die Beziehung zu Mari; die Erinnerungen an sein Leben vor dem Krieg in seinem Heimatland, das an Syrien erinnert, aber fiktiv bleibt. Und die Erzählung Tariks, eines ehemaligen Soldaten, der sich als junger Mann zum Handlanger des totalitären Regimes machte, vor dem Ahmad viele Jahre später fliehen musste.
Verbindungen zwischen den Leben entstehen peu à peu
Wytske Versteeg: „Die goldene Stunde“. Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt. Wagenbach, Berlin 2024, 240 Seiten, 26 Euro
Jeder Figur weist die Autorin eigene lange, sich abwechselnde Kapitel zu, in denen jeweils nur ihre Sicht zum Tragen kommt. Verbindungen zwischen den drei Leben entstehen so erst peu à peu. Zuerst erzählt Mari, in Ich-Form und in der Erinnerung Ahmad mit „du“ ansprechend, nachdem dieser sie und die Stadt abrupt verlassen hat.
Offenbar wird die Erkenntnis des Scheiterns, eine kritische Selbstreflexion über die Stillung eigener Bedürfnisse in der Hilfe für andere: „Ich hungerte nach deinen Erfahrungen, die zwar schrecklich waren, aber deutlich authentischer als meine.“
Es folgt aus personaler Erzählperspektive Tariks Stimme. Er begegnet Mari in einer Region nahe von Ahmads Herkunftsort. Dorthin ist sie gereist, in der Hoffnung, Ahmad besser zu verstehen. Tarik ringt bis heute mit den Taten seiner Jugend, als er in einem berüchtigten Straflager Wächter war.
Ahmad schließlich wendet sich direkt an Mari, der er Aufzeichnungen zukommen ließ, die Tarik ihr nun übersetzt und vorliest: „Vermutlich sollte ich dir dankbar sein, aber es gibt keine Dankbarkeit ohne Hass“, schreibt er darin.
Versteeg unternimmt den anspruchsvollen Versuch, diese drei sehr unterschiedlichen Leben und Erfahrungen zu verknüpfen. Ihr literarisches Verfahren, in dem sich die Sichtweisen der Figuren in den jeweiligen Kapiteln ergänzen, in Varianten spiegeln, oft widersprechen, geht auf. So tritt die Komplexität, die das Thema auf persönlicher wie politischer Ebene birgt, zutage.
Empathie als Kern von Fiktion
Die Autorin, die ehrenamtlich mit Geflüchteten arbeitet und auch einen Essayband über Traumaverarbeitung geschrieben hat, setzt auf Empathie als einen Kern von Fiktion, von Literatur. Diese ermöglicht es ihr – in Verbindung mit profunden Kenntnissen politischer wie gesellschaftlicher Verhältnisse auch in Teilen der arabischen Welt –, Ahmad als Einzelnen sichtbar zu machen.
Sein reichhaltiges Leben, bevor es zerstört wurde. Sein ungeheurer Verlust. Seine Hoffnung während des Arabischen Frühlings, seine Angst. Und dann seine Verlorenheit, seine Wut, als er es in die Niederlande geschafft hat. Wie die „Gutmeinenden“ ihn zum Kind machen, nach seiner Geschichte gieren. Zu einem gewissen Grad auch Mari. Die Versteeg nicht verurteilt.
Auch sie wird stattdessen sichtbar in ihrer Ambivalenz. Ebenso Tarik, der die Herkunft mit Ahmad teilt, aber auf der anderen Seite gestanden hat – und versucht, in der Gegenwart richtig zu handeln.So erweist sich „Die goldene Stunde“ als vielschichtige Literatur wider die Vereinfachung. Und die Gewöhnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen