Roman über Hypergewalt in Mexiko: „Guadalajara ist das Scharnier“
Antonio Ortuño erzählt von Familienkrisen, Geldwäsche und Korruption im Narcokapitalismus. Ein Gespräch über seinen Roman „Die Verschwundenen“.
taz am wochenende: Antonio Ortuño, Sie leben in Guadalajara. Dort spielt auch Ihr jüngster Roman „Die Verschwundenen“. Außerhalb Mexikos ist Guadalajara vor allem für seine bedeutende Buchmesse bekannt. Doch Sie präsentieren eine ganz andere Seite dieser Stadt. Wovon handelt das Buch?
Antonio Ortuño: Es geht um eine Bauunternehmerfamilie und deren Krise. Mit ihrem Geld, das aus Transaktionen des organisierten Verbrechens stammt – Geldwäsche also –, errichten sie Olinka, eine große Wohnanlage. Doch das Immobilienprojekt entwickelt sich bald zum Fluch für die Familie. Die ursprünglichen Bewohner des Terrains wollen nicht gehen, und der Schwiegersohn landet im Gefängnis.
Ihr Roman beginnt erst einmal wie ein Krimi?
Mich interessiert die narrative Spannung in Thrillern. Ich versuche, eine Geschichte anhand ihrer Personen und ihrer Sprache zu entwickeln. Dabei bediene ich mich gewisser Elemente des Krimis. Das erscheint mir sehr verlockend.
Antonio Ortuño wurde 1976 in Guadalajara, Mexiko geboren. Im Juli 2018 kam er für ein einjähriges Residenzstipendium des DAAD nach Berlin. In deutscher Übersetzung erschienen bisher „Die Verbrannten“ (2015) und „Madrid, Mexiko“ (2017). „Die Verschwundenen“ ist sein jüngster Roman. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein. Verlag Antje Kunstmann, München 2019. 256 Seiten, 20 Euro.
„Die Flores werden dich kaltmachen.“ Der erste Satz fängt den Leser auf diesem Wege ein und erfüllt vielleicht auch Erwartungen an einen zeitgenössischen mexikanischen Roman
Klar, es wird Spannung erzeugt, aber es lokalisiert die Handlung auch in der mexikanischen Realität – der Erfahrung, mit der existierenden Hypergewalt zu leben. Durch die Zahl der Toten, der Verschwundenen und der Opfer von Verbrechen ist das Niveau der Gewalt in Mexiko fast mit einem Krieg zu vergleichen.
Durch zahlreiche Rückblenden entwickelt die Erzählung ein überraschendes Panorama komplexer Persönlichkeiten. Was war Ihre Absicht?
Literarisch ist es für mich wichtig, dass die Gewalt nicht wie in einem Actionfilm zu einer Inszenierung gerät – mit Autos, Schüssen, mit Helden, Opfern und ein paar Schurken. Das wäre viel zu einfach. In dieser Form finden die Dinge in Mexiko nicht statt. Deshalb war die kontinuierliche Erinnerung an die Geschichte der Personen, der Stadt und der Gesellschaft wichtig, um zu verstehen, warum etwas passiert.
Das Immobilienprojekt der Familie Flores im Roman heißt Olinka – nach den Plänen für eine utopische Künstlerkolonie, die ein Doktor Artl einst auf dem Gelände errichten wollte. Gibt es dazu einen historischen Bezug?
Der Roman ist fiktiv, er beruht aber auf Ereignissen, die in Mexiko tatsächlich stattgefunden haben. Auch Doktor Artl hat wirklich existiert, genauso wie sein Vorhaben, eine Künstlergemeinschaft mit dem Namen Olinka zu gründen. Komischerweise veröffentlichte der mexikanische Kurator Cuauhtémoc Medina zeitgleich mit dem Erscheinen des Buches eine Studie über dieses Projekt von Doktor Artl.
Ihr Kollege, der mexikanische Schriftsteller Juan Pablo Villalobos, twitterte kürzlich über die „Verschwundenen“: „Es ist ein Roman, der anspricht, was in Guadalajara tabu ist; ein skurriles Bild unserer Scheinheiligkeit und der kolonialen Codes, die in der Stadt weiterhin Gültigkeit haben, aktualisiert durch die Brutalität des Narcokapitalismus.“ Welche Rolle spielt die Stadt Guadalajara im System des organisierten Verbrechens in Mexiko?
Guadalajara ist das Scharnier. Hier verbindet sich das Geld, der Einfluss und sogar die physische Präsenz der Narcos mit der Gesellschaft und der sichtbaren Macht. Viele Jahre war Guadalajara der Ort, an dem die Familien der Narcos lebten und wo die Kartelle wie an keinem anderen Ort ihr Geld investierten. Trotzdem sind sie nicht wie etwa in Sinaloa die Besitzer der Häuser, Straßen und Restaurants. Guadalajara ist die Stadt, die sie zum Leben ausgewählt haben und wo ihre Geschäftspartner wohnen. Aber „Die Verschwundenen“ ist kein Roman über Drogenhändler, sondern über die Unternehmer und theoretisch anständigen Kreise der Gesellschaft. Sie bilden die andere Seite des Phänomens, weil sie zulassen, dass das Geld fließt.
Aurelio Blanco, der Protagonist des Romans, wird nach 15 Jahren aus dem Gefängnis entlassen, nachdem ihn sein Schwiegervater Don Carlos zum Bauernopfer seiner windigen Unternehmungen gemacht hatte. Trotzdem lösen sich seine Rachepläne schon bald in Luft auf. Was ist er für ein Mann ?
Ich glaube, Blanco ist ein ziemlich gutes Beispiel für die Mittelschicht in Mexiko. Eine entpolitisierte Klasse, die die Reichen bewundert und jede Möglichkeit nutzt, sich bei den ökonomischen Eliten des Landes anzuschleichen. Blanco ist von einer Dienstbotenmoral geprägt. Sogar literarisch ist er der Hund der Familie Flores. Statt sich nach dem Gefängnisaufenthalt an ihnen zu rächen, versucht er wieder seine alte Position bei ihnen einzunehmen. Natürlich sehnt er sich nach der Entlassung nach seiner Ex-Frau und will seine Tochter wiedersehen, aber die Hauptanziehungskraft für ihn besitzt Don Carlos. Er ist der Anführer und Chef.
Am meisten scheint Aurelio Blanco aber zu beunruhigen, dass sich allgemein herumgesprochen zu haben scheint, dass er in all den Jahren im Gefängnis keinen Sex hatte.
Das Reden der anderen über seine 15-jährige Enthaltsamkeit ist für ihn demütigend. Denn er glaubt, für dumm, naiv oder weniger männlich gehalten zu werden. Bei den Leuten im Gefängnis und draußen sorgt die Geschichte für Heiterkeit. Es war mir wichtig, die Erzählung nicht in ein Melodram zu verwandeln, weil sie dann nicht den Grad einer Tragödie erreicht hätte, den ich beabsichtigte. In vielen Momenten gibt es so einen ironischen Blick. Für mich war es deshalb wesentlich, dass die Figur diese männliche Kränkung erträgt.
„Die Verschwundenen“, oder im Original „Olinka“, erschien fast zeitgleich auf Spanisch und auf Deutsch. Ist die Rezeption des Romans außerhalb Mexikos eine andere?
Klar, jemand, der das Buch in Mexiko liest, wird mehr verstehen, weil darin sehr direkt von der mexikanischen Gesellschaft die Rede ist. Außerdem ist das Buch in einer Sprache geschrieben, die viel mit der Sprache Guadalajaras zu tun hat, voll von Diminutiven und Euphemismen. Es ist eine sehr höfliche Sprache, und das ganze Buch spielt damit. Ich denke, trotz der intensiven Arbeit des Übersetzers ist das unmöglich ins Deutsche zu übertragen.
Andererseits fällt auf, dass Übersetzungen mexikanischer Literatur sehr oft von Verbrechen und Gewalt handeln.
Nicht alle Bücher über Gewalt sind gleich, warum sollte man sie also in die gleiche Schublade schieben. Das wäre, als ob man sich aus der Entfernung darüber beschweren würde, dass in Deutschland zu viele Bücher über den Nationalsozialismus erscheinen würden. Das ist eine Phase, die für Deutschland ein Davor und Danach markierte – für die Menschen, das Zusammenleben und die Geschichte. Im Gegenteil, mir erscheint es merkwürdig, wenn aktuell jemand in Mexiko etwas schreibt, das absolut nichts mit der Gewalt im Land zu tun hat. Guadalajara ist eine Großstadt wie Berlin, nur mit mehr Hochhäusern, breiteren Straßen und mehr Verkehr. Aber in Berlin bringen sie dich nicht um. Es gibt keine 60 Toten an einem Wochenende.
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