Roman über Fluchtroute Mittelmeer: Eine Kreuzfahrt mit Folgen

Frau aus der Mittelklasse trifft Geflüchteten: „Das Meer von unten“ von Marie Darrieussecq ist eine große Erzählung über die Bedingungen von Mitleid.

Die Autorin Marie Darrieussecq sitzt auf einer Bank

Beschreibt die Ungleichheit der Verhältnisse: Bestsellerautorin Marie Darieussecq in Paris Foto: Damien Grenon

Wer heute „White saviorism“ sagt, hat schon gewonnen. Allzu glatt schlägt er meist durch, der Vorwurf, Weiße, die Schwarzen helfen, degradierten diese zu handlungsunfähigen Subjekten, benutzten sie allein zur eigenen moralischen Überhöhung. In ihrem neuen Roman „Das Meer von unten“ zeigt die französische Bestsellerautorin Marie Darrieussecq, wie wohlfeil und schematisch der Vorwurf oft ist – und wie viel komplexer die Bedingungen sind, unter denen praktische Solidarität entstehen muss.

Die parabelhafte Ausgangslage von Marie Darrieussecqs Erzählung ist eine Kreuzfahrt über Weihnachten auf dem Mittelmeer. Eine Gruppe Flüchtlinge wird an Bord genommen, die einen Schiffbruch vor Libyen überlebt haben. Unter ihnen ist ein junger Nigrer namens Younés, unter den Passagieren die baskische Psychologin Rose. Sie reist mit ihren zwei Kindern, es ist auch Urlaub vom Ehemann. Rose, geplagt von den Nöten der Mittelschicht mittleren Alters, ist dem Alkohol nicht abgeneigt und träumt von amourösen Abenteuern mit den philippinischen Matrosen.

Die Kreuzfahrer glotzen und fotografieren die Schiffbrüchigen, Rose gibt Younés erst Kaffee aus ihrer Thermoskanne, dann fantasiert sie davon, ihn zu adoptieren. Sein Anblick lässt sie sich selbst plötzlich als „Glückspilz auf dem Planeten“ begreifen. Rose klaut ihrem schlafenden 15-jährigen Sohn das Handy und drückt es dem jungen Mann in die Hand, bevor der auf ein Schiff der Küstenwache Richtung Italien umsteigen muss.

Rose ist in Younés’ Handy als „Mama“, er in ihrem als ihr Sohn Gabriel. Immer wieder denkt sie, sie müsste Namen und Bild mal ändern, tut es aber nie. Er ruft sie an, schickt Nachrichten, nennt sie darin die „Mutter, die Kraft und Zuversicht schickt“, und findet in dieser Vorstellung Halt in einer Lage, die keinen anderen Halt bietet.

Marie Darrieussecq: „Das Meer von unten“. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Secession, Berlin 2024, 280 Seiten, 25 Euro

Rose liest die Nachrichten, ortet sein Handy, verfolgt sein Schicksal fast obsessiv aus der Ferne. Amouröse Gefühle flackern auf, sie läuft ihm physisch hinterher, als er nach Paris kommt, hofft, dass seine Augen dort „leuchten vor Freude und Jugend und Abenteuerlust“ – ohne aber je Kontakt aufzunehmen. Denn: Was würde es sie letztlich kosten, wenn sie erst einmal anfängt, ihm zu helfen?

Sie holt ihn in ihr Leben

Fast ein Jahr bleibt es so: Sie sind in ihrer beider Leben eingedrungen, der eine hofft auf praktische Hilfe, muss sich aber mit der Energie begnügen, die er aus der Projektion der schützenden Mutter zieht. Die andere lebt ihr Leben weiter, ihre Gedanken aber sind vom Los des jungen Nigrers erfüllt.

Schließlich wird aus der imaginären Beziehung eine reale. Younés wurde bei Zwangsarbeit in Libyen schwer verletzt, sein Arm heilte nie wieder ganz. So vermag er sich im nordfranzösischen Calais auf der illegalen Passage nach England nicht auf einem Lkw zu halten. Er stürzt und verletzt sich an den Füßen. Hel­fe­r:in­nen bringen ihn ins lokale Krankenhaus, doch für die langwierige Behandlung hat niemand hier Ressourcen.

Also ruft Younés einmal mehr nach ihr – und Rose setzt sich ins Auto und holt ihn ab: in ihr Leben in Südfrankreich, in das neu gekaufte Haus der Familie, mit Garten für Selbstversorgung, das sie auch deshalb gekauft hat, weil sie ihre Generation „an der Schwelle zur Katastrophe“, dem Klimakollaps, sieht. Paternalistischer geht es dann kaum: Sie steckt Younés in ein Kinderzimmer, obwohl sie von einer befreundeten Physiotherapeutin erfährt, dass ein Röntgenbild seiner Knochen auf ein Alter von Mitte zwanzig hindeuten dürfte, sie kocht für ihn und fährt mit ihm Hosen kaufen.

Doch die Begegnung verändert Younés und Roses ganze Familie. Ihr Ehemann, den sie fast nur noch als Trinker wahrgenommen hatte, erweist sich als respektvoll und unterstützend, während Younés immer längere Monate bleibt. Ihre Tochter, geplagt von schlimmsten Allergien, findet in ­Younés trotz des Altersunterschieds eine Bezugsperson, die sie stützt. Der Sohn Gabriel, zu Beginn des Romans egoman, handysüchtig und desinteressiert, lernt zu teilen.

Geld für die Premium-Schlepper

Und Rose selbst, die als Psychologin zu Beginn strikt rational behandelte, erfindet sich in Younés’ Vorstellung, sie habe ihm „Kraft geschickt“, neu: In ihren Therapien setzt sie immer stärker darauf, die Energien der Pa­ti­en­t:in­nen durch Handauflegen und Gedankenkraft zum Besseren zu wenden.

Was wie ein Irrweg ins Esoterische anmutet, verschafft Rose jenen Frieden mit ihrem Leben, der ihr fehlte. Younés wiederum bekommt, was er braucht: Zeit, um seine Gelenke zu kurieren, und Geld für die Premium-Schlepper, die ihn über den Ärmelkanal nach England bringen, ohne dass er dabei sein Leben riskieren muss.

Darrieussecq schildert all das, ohne je blind zu sein für die Eitelkeiten, die Egoismen, die Einfältigkeiten jener, die besitzen, die alle Rechte haben, die im Luxus leben, nicht fliehen zu müssen und frei entscheiden zu können, ob, wann, wie und wem sie helfen. Sie blättert die monströse Ungleichheit dieses Verhältnisses auf und macht es so in seiner Komplexität berührbar. So schrieb sie eine große Erzählung zu einer­ großen Frage unserer Zeit.

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