Roman über Barockdichterin: Mit Macht zum Kitsch
Stefan Cordes hat Sibylla Schwarz (1621-1638) ein Leben angedichtet. Für ihre Zeit, ihr Lesen und ihre Lyrik hat er sich aber nicht interessiert.
![Der Kupferstich zeigt Sibylla Schwarz Der Kupferstich zeigt Sibylla Schwarz](https://taz.de/picture/7211980/14/Sibylla-Schwarz-1.jpeg)
Mitunter machen Bücher nicht schlauer, sondern einfach nur ratlos: Das gilt für den Roman „Billie“. Mit dem macht sich Stefan Cordes in durchaus zupackender Sprache zur Ich-Erzählerin. Als die fantasiert er Sibylla Schwarz, der bedeutendsten norddeutschen Barockdichterin, ein Leben zusammen.
Warum auch nicht. Sie hatte ja keins. Gestorben ist sie 1638 mit 17 Jahren an der Ruhr im damals schwedischen Greifswald. Ein fast friedlicher Tod mitten im 30-jährigen Krieg, der an der Ostseeküste massiv in den bürgerlichen Alltag hineingewirkt hatte. Geboren worden war Schwarz drei Jahre nach dessen Ausbruch. Zwischendurch, 1630, hat die Pest ihre Mutter dahingerafft.
Laut ihrem ersten Herausgeber hat sie „im dreyzehenden und folgenden Jahren / bis an das sibenzehende“ geschrieben: Ihre rund 100 Gedichte bewegen sich selbstsicher, ja virtuos in den Konventionen ihrer Epoche. Manche haben sich als sehr freie Nachdichtungen erwiesen.
Im 17. Jahrhundert, dem Genie-Ästhetik fern lag, war das eine schlüssige poetologische Praxis. Sie dient, ähnlich wie heute Klassiker-Überschreibungen im Regietheater, sowohl der Huldigung an die Vorgänger als auch dem Finden eines Eigenen in deren Material.
Niederländische Quellen
So hat der Oldenburger Literaturwissenschaftler Christian Schmitt gerade erst nachgewiesen, dass Sibylla Schwarz’ Gedicht „Verachtung der Welt“ einen Auszug aus Jacob Cats’ absolutem Bestseller „Houwelyck, dat is, De gansche gelegtheydt des echten staets“ (1625) – also in etwa: Hochzeit oder alle Angelegenheiten des wahren Standes – nachformt.
Wobei sie die Vorlage erstens übersetzt. Zweitens komprimiert. Und drittens in ihren deutschen Versen zu kühnen neuen Sprachbildern findet: Toll aufbereitet finden sich die Werke in Michael Garz’ zweibändiger Ausgabe, historisch, kritisch, informativ und trotzdem erschwinglich. Kaufen Sie bloß nix anderes!
Aus einem solchen Œuvre allein lassen sich selbstredend kaum Infos übers Autorinnenleben ableiten. Es bleibt, von den Gedicht-Anlässen – Hochzeiten und Todesfälle – abgesehen, eine Leerstelle. Mit der lässt sich ästhetisch reizvoll umgehen. Das hatte kürzlich Max Baitinger in seiner coolen Comic-Biografie „Sibylla“ bewiesen. Er nimmt darin die Visionen der Poetin wörtlich und spinnt sie weiter: Wie in Schwarz’ Versen selbst, konkurriert auch in diesem Band die Gewaltwelt der Epoche – Krieg, Folter, Scheiterhaufen – mit den dichterischen Aufflügen einer mythologisch informierten Fantasie: Dieses übergangslose Umschlagen der Gegensätze, das ist barocke Dialektik. Sie erzeugt eine neue, künstliche, eine eigene Wirklichkeit.
Spiegel, Spargel, Marzipan
Cordes wählt den umgekehrten Weg. Er lässt die Verse als Teil einer behaupteten Realität stattfinden. Bei deren Schilderung aber unterlaufen ihm ständig Anachronismen. In seinem 17. Jahrhundert gibt’s gestochenen, weißen Spargel mit ebenso undenkbaren Kartoffeln und unwahrscheinlichem Marzipan. Auch hängt ein großer Wandspiegel in Sibyllas Elternhaus, als wüchse sie als Prinzessin in Versailles und nicht als Tochter des Bürgermeisters in Greifswald auf.
Egal? Nein. Denn diese falschen Requisiten weisen darauf hin, dass sich Cordes ganz in Denkschablonen des 19. Jahrhunderts bewegt. Und das berührt den Kern des Romans: Die Geschlechterrollen des bürgerlichen Zeitalters sind viel starrer als die noch des Barock. Cordes bekräftigt sie folglich gerade, wo er so tut, als würde seine Protagonistin gegen diese rebellieren.
„Ich hasste die Stickerei“, heißt es da beispielsweise. „Niemand zwang Jungs zu etwas so Schrecklichem wie die Leinenstickerei“: Ein Satz, der nicht nur grammatikalisch rumpelt, sondern auch schlecht in eine Zeit passt, die gerade erst beginnt, Lebenssphären und erzieherische Ziele gleichsam in Rosa und Blau zu unterteilen.
Woran, lustigerweise, die gute Sibylla ja sogar auf spektakuläre Weise mitwirkt, als sie 1634 den frühzeitigen Tod der „Frawen Catharina Essens / Hern D.Johannis Schönern ehelichen lieben Haußfrawen“ als Katastrophe von Familie und Haushaltung besingt.
Roman Stefan Cordes: „Billie“, München, C. Bertelsmann, 384 S., 24 Euro.
Comic Max Baitinger: „Sibylla“, Berlin, Reprodukt, 176 S., 24 Euro
Aufsatz Christian Schmitt: „Spielräume des Übersetzens. Sibylla Schwarz’ Gedicht ‚Verachtung der Welt‘ und seine niederländische Vorlage. In: Daphnis 52, 51–73.
Werkausgabe Sibylla Schwarz, 1621-1638, Werke, Briefe, Dokumente, hg. von Michael Gratz, Leipzig, Reinecke & Voß, Softcover, Bd. 1. 192 S., 20 Euro / Bd. 2, 276 S., 24 Euro, zu beziehen über den Verlag info@reinecke-voss.de
Ungewöhnlich an diesem Trauergedicht: Es wertet Care-Arbeit, die es der weiblichen Sphäre zuweist, als mindestens ebenso heldenhaft wie nach außen gerichtete männliche Geschäftigkeit.
So eine Geschichte heute nicht erzkonservativ klingen zu lassen, das wäre Kunst. Cordes verzichtet lieber ganz darauf, sie zu schreiben. Dafür macht er die Poetin radikal abhängig von ihrem zwischenzeitlichen Hauslehrer Samuel Gerlach.
Tatsächlich ist dessen leider schlampiger Werk-Ausgabe Gedichte zu verdanken, dass die Frühverstorbene bis heute überlebt hat. Der Roman inszeniert den mittelmäßigen Geistlichen als großen Inspirator, ohne den Schwarz sich mit Dichtung nicht beschäftigt hätte.
Dass die junge Frau sich mit dem irren Anagramm „Sibylla Wachsesternin von Wildesfragen“ selbst charakterisiert haben könnte, kommt Cordes dabei nicht in den Sinn. Für ihr wildes Fragen und das damit verbundene einsame Abenteuer des Lesens fehlen ihm die Worte. Er braucht Schüsse!, Blut!, ein bisschen homosexuelle Erotik! Wie langweilig.
Vor allem aber muss für Cordes und seinen Plot eine dichtende, schreibende Frau im 17. Jahrhundert, das doch von dichtenden und herrschenden Frauen geprägt war, als Skandal empfunden werden.
Ein Hexenprozess muss her!
Als dramatischen Gipfel seines Werks erfindet er deshalb einen Hexereiprozess, der natürlich zum Prozess um Schwarz’ Lyrik wird: Dabei hat in Greifswald während der Herrschaft von Königin Christina kein einziges dieser Verfahren stattgefunden.
Besonders bizarr: Als Corpus Delicti dient dem fiesen Ankläger ausgerechnet das erwähnte Poem „Verachtung der Welt“, dessen Titel das barocke Weltbild vom irdischen Jammertal auf den Punkt bringt. Cordes indes hält ihn für blasphemisch. Gefühlsduselig muss seine Protagonistin sagen, es sei „ein Gedicht, das von Verzweiflung erzählt“. Das ist blanker Kitsch.
Möglich, dass Cordes seinen Roman geschrieben hat, weil er Sibylla Schwarz irgendwie toll findet. Bloß was an ihr, bleibt ein Rätsel. Die Zugänge zu ihrer Dichtung hat er jedenfalls unter einem trivialen Plot begraben und mit Gefühlsleim fest verkleistert.
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