Roman „Zauberberg 2“ von Heinz Strunk: Er bleibt und bleibt und bleibt und bleibt
Heinz Strunk nennt seinen neuen Roman „Zauberberg 2“ und schickt darin einen Start-up-Unternehmer in ein Sanatorium. Wie lange kann das gutgehen?
Jonas Heidbrink ist geradezu der Prototypus einer Figur, wie man sie so wohl nur im Heinz-Strunk-Kosmos antrifft. Heidbrink, 36 Jahre alt, hat schon in jungen Jahren als Start-up-Unternehmer Karriere gemacht. Als er seine Firma an ein größeres Tech-Unternehmen verkauft, kommt er zu viel Geld, wird „Privatier“.
Doch dieses Dasein bekommt ihm nicht, er stürzt in eine schwere Sinnkrise, verfällt in einen „dauerhaften Zustand aus Angst, Panik, quälender Langeweile, Aussichtslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und alle anderen Losigkeiten“. Der Roman setzt ein, als Heidbrink zu einem Sanatorium nahe der polnischen Grenze fährt und dort eine Therapie beginnt. Einen Monat will er bleiben.
Heidbrink ist als Wiedergänger Hans Castorps angelegt, jenes jungen Mannes, den Thomas Mann vor hundert Jahren ins Sanatorium nach Davos schickte und der dort blieb und blieb und blieb. „Zauberberg 2“ hat Heinz Strunk seinen Roman ganz bescheiden genannt, Passagen aus Manns Werk zitiert er wörtlich, man kann sie im Anhang nachlesen. Der Titel ist natürlich genial, holt er doch Thomas Mann nonchalant vom Sockel und mutet zudem – in Kombination mit dem Science-Fiction-mäßigen Prägedruck auf dem Buchcover – blockbustermäßig an.
Dieser Blockbuster erweist sich dann als typisch Strunk’sche Tragikomödie, auch wenn der Protagonist das Klinikgeschehen eher als öde Daily Soap erlebt: „Echte Patienten sind viel deprimierender als Film- oder TV-Patienten. Im Unterschied zum turbulenten TV-Krankenhaus-Alltag passiert im wirklichen Krankenhaus nie etwas, keine geilen Ärzte, keine verrückten Besucher, keine Liebesabenteuer, keine Überraschungen, nichts, nur Vitalwerte, Suppe und Langeweile.“
Heinz Strunk: „Zauberberg 2“. Rowohlt, Hamburg 2024. 288 Seiten, 25 Euro
Wie um dies zu unterstreichen, nennt Strunk zwischendurch immer wieder die bei Heidbrink gemessenen Werte („Sauerstoff 95 / Temperatur 36,7 / Blutdruck 126: 80 / Puls 64“). Man begleitet ihn und seine Mitpatient:innen beim vollen Klinikprogramm: Musiktherapie, Fototherapie, Bibliotherapie, Bewegungstherapie, progressive Muskelrelaxation und so weiter.
Die Heilanstalt als Spielwiese
Figuren zu kreieren, die alle ihren ganz eigenen Hau haben, ist Strunks Spezialgebiet. Seine in der Nähe von Stettin angesiedelte Heilanstalt dient ihm da als Spielwiese. Auf der tummeln sich Figuren wie Heinz-Christian („erfolgreicher Unternehmer in der Krise“ und „sportlicher Mann in den besten Jahren, der sich auf Datingportalen wahrscheinlich als ansehnlicher, erfolgreicher Mittfünfziger vermarkten würde“), wie der „seit dreiunddreißig Jahren […] bei Opel im Einkauf tätige“ Uwe, den seine Firma nun loswerden will, wie das Odd-Outsider-Couple Pia und Eddy, das in der Klinik zueinander findet, wie Marcel Rinkhaus, den Heidbrink als erstes im Sanatorium antrifft, als Platzhirsch ausmacht und der Objekt seiner Projektionen und Paranoia wird.
Oder wie Zeissner, der Heidbrink mit seinen nihilistischen Tiraden behelligt. Strunk gelingt die Figurenzeichnung ähnlich gut wie in vielen seiner Erzählungen und Romane (zuletzt etwa „Sommer in Niendorf“, „Der gelbe Elefant“). Auch die Story ist insgesamt stimmig: Pia und Eddy verschwinden irgendwann, es passiert also doch mal was hinter den Klinikmauern, ehe der stetig fortschreitende Verfall von eigentlich allem einsetzt. Die Jahreszeiten ziehen derweil an Heidbrink vorbei, und er bleibt und bleibt und bleibt im Sanatorium.
„Zauberberg 2“ ist angelegt als Gesellschaftsdiagnose, sonst hätte Strunk keinen ehemaligen Startupper in der existenziellen Krise als Hauptfigur gewählt, nicht die Therapiemethoden oder die sozialen Mechanismen in der geschlossenen Gesellschaft Heilanstalt seziert. Manche Passagen funktionieren auch als solche, brillant ist etwa beschrieben, wie Heidbrink in der Klinik ankommt und das Soziotop gleich in Ranghöhere und Rangniedere einteilt, wie sozialdarwinistisch Gruppen im Buch funktionieren.
Achtsamkeit an Gruppenabenden
Auch bildet der Roman das Mäandern durch den Klinikalltag, das Nebeneinander von Achtsamkeitsübungen, zähen Therapiegesprächen und Gruppenabenden stilistisch gut ab; es ist, als sähe man Heidbrink knapp 300 Seiten beim Auf-der-Stelle-Treten zu. Das unterhaltsam zu gestalten, ist große Kunst.
Und doch ist „Zauberberg 2“ ein Gesellschaftsroman, der auf halber Strecke stehen bleibt. Er tippt die großen Themen eher an, dekliniert das heutige Zeitalter des Coachings und der Therapie nicht vollständig durch, schreibt kein Psychogramm des Typus Start-up-Unternehmer, auch verfolgt er nicht alle Figuren konsequent.
Strunk-Fans dürfte diese bitterböse Zauberberg-Adaption dennoch Spaß machen – sofern angesichts der geballten Ladung Pessimismus und Weltverachtung, die viele Figuren vor sich hertragen, von „Spaß“ die Rede sein kann.
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