piwik no script img

Roman „Jahre mit Martha“Liebesgeschichte mit Sonderzeichen

In seinem Roman „Jahre mit Martha“ erzählt Autor Martin Kordić die Biografie eines migrantischen Bildungsaufsteigers.

Kordić' Roman „Jahre mit Martha“ nimmt die Lebenswirklichkeiten der Migrantenkinder in den Blick Foto: Peter Hassiepen

Frau Professor Gruber macht im Badeanzug Gymnastik, bevor sie mit Kopfsprung im Pool verschwindet. Der 15-jährige Jimmy, für die Sommerferien als Gartenhelfer engagiert, sägt mit freiem Oberkörper Holz. Spannung liegt in der Luft – bis sie eines Tages ganz allein sind, im Anwesen in Heidelberg …

Der Schüler und die Professorin. Was die Anlage zu einer verschwitzten „Reifeprüfungs“- Fantasie hätte, kommt bei Martin Kordić verblüffend unpeinlich daher. Denn die Spannung zwischen dem ungleichen Liebespaar in seinem Roman „Jahre mit Martha“ entspringt weniger einem erotischen Klischee als einiger Situationskomik – Frau Gruber kann beim ersten Treffen vor Scham nicht pinkeln in Jimmys beengter Wohnung – und einem großen Klassenunterschied.

Jimmy heißt in Wirklichkeit Željko Draženko Kovačević, was wegen der vielen Sonderzeichen nie cool sein wird. Der Sohn von Kroaten aus der Herzegowina, dessen Mutter drei Putzjobs hat und dessen Vater auf Baustellen malocht, wohnt mit zwei Geschwistern in einer Zweizimmerwohnung in Ludwigshafen.

Um sich zu bilden, sammelt er Lektüre aus Altpapiercontainern. In der Bibliothek der Grubers findet er erstmals Zugang zu einer Welt, die ihm qua Herkunft verschlossen ist: „Ganz gleich, wie viele Arbeitsstellen meine Eltern noch annehmen würden – hier sah ich alles, was ich von ihnen nie würde bekommen können.“

Das Ungleichgewicht bleibt

Zu mehr als Küssen am See kommt es zwischen ihm und der 25 Jahre älteren Akademikerin zunächst nicht. Erst als es Jimmy nach München an die Uni geschafft hat, bekommt die Beziehung auch eine sexuelle Komponente. Das Ungleichgewicht zwischen den beiden aber bleibt. Die ältere Frau gibt den Ton an: Sie bezahlt, sie bestimmt, sie choreografiert seine Erregung. Und Jimmy unterwirft sich.

Das Buch

Martin Kordić: „Jahre mit Martha“. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022, 288 Seiten, 24 Euro

Mit zunehmender Entfernung zu seinem Herkunftsmilieu wird der Student immer einsamer und anfällig für manipulative Figuren wie den schillernden Literaturdozenten Alex Donelli, der ihn erst protegiert und dann fallen lässt. Den Tag seiner Uni-Abschlussfeier verbringt Jimmy nur mit Martha – und wird sich zum ersten Mal des Preises bewusst, den ihn sein Bildungsaufstieg gekostet hat.

„Seit heute war ich ein Kovačević mit einem akademischen Abschluss. […] Trotzdem war ich an diesem Tag von einer Traurigkeit umhüllt. […] Meine Eltern fehlten. Mein Bruder fehlte. Meine Schwester fehlte. Meine Cousinen und Cousins fehlten. Meine ganze große Familie fehlte.“

Lebenswirklichkeit der Migrantenkinder

Erkennbar steht „Jahre mit Martha“ in einer noch jungen Tradition von Romanen, die, endlich, die Lebenswirklichkeiten der BRD-Migrantenkinder in den Blick nehmen. Wie findet man seinen Platz in einer Gesellschaft, die Kindern mit „Sonderzeichen-Nachnamen“ höchstens eine Gärtnerausbildung zugesteht, wie der Mann vom Arbeitsamt, der Jimmys zehnte Gymnasialklasse besucht? Wie viel Anpassung ist nötig, um Erfolg zu haben – und wie groß ist die Gefahr des Verrats an der eigenen Herkunft?

All diese Fragen verhandelt auch das Buch „Jahre mit Martha“, dessen gesellschaftspolitische Fragestellung der Autor gleich zu Beginn ausformuliert: „Meine Geschichte will ich erzählen, weil ich glaube, dass wir uns mehr Geschichten erzählen sollten über uns in diesem Land.“

Möglicherweise lässt der Han­ser-­Lek­tor Martin Kordić, auch er Sohn eines Kroaten, hier Elemente seiner eigenen Biografie durchscheinen. Doch „Jahre mit Martha“ ist nicht in erster Linie autobiografisch, noch verfolgt es ein im engeren Sinne klassenkämpferisches Anliegen. Jimmy, der sich irgendwann wieder Željko nennt und am Ende doch Gärtner wird, ist kein klassischer angry young man – dafür entzieht er sich zu sehr üblichen Zuschreibungen männlich-migrantischer Adoleszenz.

Genauso wenig hat Kordić ihn als Opfer einer migrantenfeindlichen Klassengesellschaft angelegt. Jimmy-Željko ist schillernd: auf seine eigene, poetisch-literarische Art: anpassungsbereit, aber eigensinnig, ein bisschen bi, aber engagiert im konservativen Fußballverein Kroatia Vorderpfalz, ein Michael-Jackson-Fan mit Faible für melancholische Lyrik. Ein beeindruckend vielschichtiger Charakter in einem schönen Roman.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!