Roman „Ja, Schnecke, ja“: Die Poesie der Weichtiere
Wortgewaltiges Romandebüt: Jan Snela vertieft sich in „Ja, Schnecke, ja“ in das Zeichensystem der Liebe bei Mensch und Tier.
Jan Snela hat sich Zeit gelassen, für seinen ersten Roman. Acht Jahre ist es her, dass er seinen Erzählband veröffentlichte, der wiederum auch erst sechs Jahre nachdem die Titelgeschichte „Milchgesicht“ ihm den ersten Preis des Open Mikes einbrachte erschien. Doch wenn man wie Peter Bichsel daran glaubt, dass Gedanken selten geschöpft, sondern meistens gefunden werden müssen, hat Snela womöglich schlicht gründlich gesucht.
Aufgestöbert hat er für „Ja, Schnecke, ja“ jedenfalls eine Menge: Das titelgebende Weichtier etwa, Elysia marginata, das die praktische Fähigkeit hat, sich selbst zu enthaupten. Zwecks Erforschung dieser Schnecke reist Amanda nach Japan, ihren etwas wehleidigen Partner Hannes zu Hause zurücklassend.
Es ist aber kaum die Geschichte, die Snela so lange hat graben lassen, sondern die Sprache, in die er sie kleidet: „Tränenschwalltrüb schießt die ‚Milch‘ aus dem Zyklopenauge des Tetraeders aus blauem Karton. O Tage des Dümpelns in euterfremder Fermentation!, hört Hannes es schluchzen im Vorsichhingeglucker. Sich selbst beheulendes, oktroyiertes Gebräu …“
Opulent, overdressed, egal ob beim Frühstück oder Sex: „Isadora verspürt Universalgelüste. Sie ist Mäusin nicht länger mehr denn das Meer. Sie verliert sich im Dunkeln von etwas Vertrautem, Unbekanntem. Sie seufzt. Sie schreit.“
Jan Snela: „Ja, Schnecke, ja“. Klett-Cotta, Stuttgart 2025. 416 Seiten, 26 Euro
Urschrei des Materials
Isadora ist übrigens wirklich Mäusin, denn Snela geht animistisch zu Werk. Beseelt sind Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge, alles spricht und krächzt, ächzt durcheinander, bis das Gebrumm und Gesäusel sich zum Urschrei puren Materials vermengt. Das liest sich gut im übertragenen Sinne, als Kommentar zur Zeit, zu unserer lauten Gegenwart.
Überall lauern Eindrücke und Reize, digital wie analog, denen der Mensch und seine Synapsen nicht werksmäßig überlegen ist, sondern sich oft genug durch übermäßiges Ausschütten von Botenstoffen geschlagen gibt. Systemausfall, Überforderung. So verfällt der moderne Mann Hannes schließlich auch dem Zauber eines muskulösen Internetbros Marke Andrew Tate, dessen Videos er zunächst nur aus Unterhaltungszwecken konsumiert hatte.
Doch Snelas Personal ist intellektuell gewappnet, dem Irrsinn der Welt zu begegnen, gehören doch die meisten Figuren der Riege der Wissenschaftler:innen an. So kommen denn auch immer wieder Theorien und Modelle zur Anwendung, im Versuch, die borstige Weltoberfläche zu glätten: die „Fuzzy-Logik“ vorrangig, eine Methode zur Mathematisierung des Unscharfen, die Zuordnungen auch jenseits von Nullen und Einsen vornimmt.
Die kommt zum Tragen etwa, wenn Amanda eine auf „präzise Art vage Ahnung“ von ihr Besitz ergreifen spürt. „Die Frage ist nicht ‚wie wahrscheinlich‘ und ‚ob‘, – die Frage ist, inwieweit. Okaima zählt mit einer Zugehörigkeit von – wie viel genau, das wäre noch zu bestimmen – zur Menge der unter die Hirsche gefallenen alten Herren. Und sie? Zu welcher Menge zählt sie?“ Helfen, die Rätsel des (menschlichen) Lebens zu lösen, tun die Theorien freilich nicht. Zahlen und Kurven offenbaren selten die Antwort auf die Frage, ob eine Beziehung nach x gleich Liebe oder y gleich Schluss aufzulösen ist.
Roland Barthes Reich der Zeichen
Snela lässt seinen Roman nicht ohne Grund in Nara spielen, jener Stadt, in der die Rehe und Hirsche den Ton angeben. Vielleicht ist dieses so unwahrscheinliche Japan der geeignete Ort, den aufsucht, wen der Lärm der Welt drückt. Zumindest, wenn man Roland Barthes weiterdenkt, dessen Berichte aus dem „Reich der Zeichen“ auch Snela an mancher Stelle inspiriert haben dürften.
Letzterer greift immer wieder japanische Begriffe auf, stellt sie seinen Figuren jedoch weniger als Wörter denn als philosophische Konstrukte zur Seite und lässt so die japanische Sprache als Mittel, um zu sprechen, weitgehend außen vor. Ähnlich Barthes, der sich Japan erklärtermaßen konstruiert. Was bleibt auch übrig, wenn man die Sprache nicht versteht, Sprache aber überall ist?
Barthes beobachtet, dass in Japan die Botschaft hinter die Geste, hinter das Zeichen zurücktritt und beschäftigt sich auch mit dem Haiku, der traditionellen Gedichtform. „Bei all seiner Klarheit will der Haiku doch nichts sagen“, notiert der Philosoph Ende der 60er Jahre, „und gerade aufgrund dieser doppelten Voraussetzung scheint er offen für den Sinn zu sein, scheint er auf besondere Weise verfügbar und dienstbar, wie ein höflicher Gastgeber, der es Ihnen gestattet, sich mit Ihren Eigenheiten, Werten und Symbolen bei ihm niederzulassen.“
Folgt man dieser Logik, kann man die jeden Textabschnitt in „Ja, Schnecke, ja“ abschließenden Haikus in ihrer Banalität annehmen. Zu groß ist ansonsten die Diskrepanz zwischen den alliterationsschweren Sätzen, die die Hannes’sche wie Amanda’sche Realität umzüngeln und der immer gleichen im Silbenrhythmus 5-7-5 verfassten bildarmen Kurzlyrik.
Es sind außerdem irgendwie auch Hannes’ Kurzgedichte, der erklärtermaßen Haikudichter werden will, oder die des Dichters Kobayashi Issa, oder die des Essenslieferanten Hajos, so ganz ist das alles irgendwann nicht mehr auseinanderzuhalten.
Drängen ins Absurde
Sie sind jedenfalls deutlich alberner, die um Hannes kreisenden Textteile, und erinnern darin sehr an die Haltung in Snelas Erzählungen, in denen der 1980 geborene Schriftsteller das Lächerliche seiner Figuren immer gleich, fast im vorauseilenden Gehorsam offenlegte. Das spiegelte sich auch auf der Wortebene wider, denn seine Wort- und Verbneuschöpfungen knallten weniger mit einer Jelinek’schen Härte zielgenau in die Mitte des Aussagbaren, sondern tänzelten mitunter etwas zu gewollt um ihren neuen Sinn herum.
Auch jetzt, im Roman, irritiert es mitunter, dass Snelas Wortspiele immerzu ins Absurde drängen. Als schämten sich die Komposita – „bewegtebewegerleinfeine“, „Eisberstgeräusch“ – ihrer Akrobatik, als sei jetzt eigentlich nicht die Zeit für Kunststücke.
Nicht alle Wortspiele klappen, Snela hat sichtlich die Narrenkappe auf, trotzdem: Endlich traut sich jemand, auf das Karussell aufzusteigen, mit dem schon Ernst Jandl, vielleicht auch Peter Kurzeck gefahren sind. Manches gerät sehr schön, etwa wenn Snela von der Liebe erzählt, die sogar die Jahreszeiten reparieren kann.
Seine Sprache ist die des Barocks: lyrisch gekünstelt, große Gefühle zumindest beschwörend. Es ist auch eine Sprache, die mehrere Sinne anspricht, hört man doch Snelas Sätze stets in sich klingen; Resonanzräume findend, in denen es noch lange nachhallt.
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