Roman „Die Privilegierten“: Schuldlos Schuldige
Aktuell reiht sich Krise an Krise. Wer würde das nicht gerne verdrängen? Thomas von Steinaecker erzählt von einem Mann, der groß darin ist.
Das Motto, das am Anfang von „Die Privilegierten“ steht, führt ins Herz dieses hervorragenden Romans. Thomas von Steinaecker zitiert einen Auszug aus A. A. Milnes „Pu baut ein Haus“. Der Bär, Ferkel und Christopher Robin diskutieren über ein bestimmtes Verhalten Tigers. Dieser meine es bestimmt nicht böse, sagt Ferkel, was von Pu bekräftigt wird: „Alle meinen es eigentlich nicht böse; das finde ich wenigstens.“ Genau darum wird es in „Die Privilegierten“ dann gehen: dass niemand, der auftritt, es böse meint – und dennoch geht alles, fast alles fürchterlich schief.
„Die Privilegierten“ ist der sechste Roman Thomas von Steinaeckers; ihn ausschließlich als Romancier zu bezeichnen wäre dennoch zu kurz gegriffen. Er ist ein ungewöhnlich vielseitiger Autor, der auch Dokumentarfilme für Fernsehen und Kino dreht, kürzlich über Werner Herzog („Radical Dreamer“). Mit „Ende offen“ hat er im vergangenen Jahr ein viel beachtetes Sachbuch über Fragment gebliebene Kunstwerke veröffentlicht.
Zudem ist er Comickritiker und -szenarist: Ebenfalls 2022 kam „Stockhausen – Der Mann vom Sirius“ heraus, der erste Teil einer zweibändigen, umfangreichen Graphic Novel. In einer ungewöhnlichen Verknüpfung von Biografie und Autobiografie schildert Steinaecker hier sowohl das Leben des Avantgardekomponisten als auch die enge persönliche Verbindung, die er als junger Mann zu diesem besaß.
Wie „Der Mann vom Sirius“ beginnt „Die Privilegierten“ in der bayerischen Provinz, in Oberviechtach. Bastian Klecka, der Icherzähler – geboren 1982 und damit fünf Jahre jünger als sein Autor – ist gerade vier, als seine Eltern mit dem Auto tödlich verunglücken. Er wächst daher bei seinem Großvater auf, einem Thomas-Mann-Forscher und Bildungsbürger alter Schule, der „Höhenkammkunst“ schätzt und für den das Fernsehen der „Inbegriff von Totalverblödung“ ist.
Thomas von Steinaecker: „Die Privilegierten“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2023, 624 Seiten, 26 Euro
Eine Brücke zwischen ihm und seinem Enkel schlägt vor allem das gemeinsame, konzentrierte Hören von Kunstmusik. Aus der Isolation des Waisenkinds befreit Bastian die Freundschaft mit dem „Öko-Mädchen“ Madita und dem aus Rumänien stammenden Ilie.
Karriere beim Virtual Reality-TV
Erwachsen geworden, strebt Bastian zunächst das Lehramt an, macht dann aber Karriere beim Fernsehen, wo er zunehmend im Bereich der Virtual Reality tätig ist. Eines seiner Projekte ist der „Retro-Room“, eine VR-Version der in den 1990ern beliebten Show „Jeopardy“ mit Frank Elstner. Ebenfalls erfolgreich ist seine Frau Brigitte, die es bis zur Schuldirektorin bringt, auch wenn sie für Bastians Aktivitäten einige Opfer bringen muss.
Samy, der einzige Sohn des Paars, erweist sich als hochbegabt, bricht zum großen Leidwesen der Eltern aber sein Medizinstudium ab, um für die gemeinnützige Organisation „Menschen“ an sozialen Brennpunkten zu arbeiten.
All dies wird in einer nahezu den ganzen Roman umfassenden Rückblende aus der Sicht des gealterten Bastian erzählt, der in den 2040ern als Einsiedler in den norwegischen Wäldern lebt und nicht weiß, ob er den Winter überleben wird.
Je mehr die Handlung voranschreitet, desto mehr wird „Die Privilegierten“ zu einem dystopischen Science-Fiction-Roman, der aktuelle Probleme unerbittlich extrapoliert. Dass zunehmend vieles im Argen liegt, streut Bastian in seine Erzählung immer wieder ein; deutlich wird zugleich, wie wenig ihn dies berührt. Die Siedlung in der Nähe von München, in die er zieht, entwickelt sich zu einer von Drohnen und Security bewachten Gated Community, wo sich die Klimakatastrophe, neue Seuchen sowie eine politische und soziale Polarisierung, die zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führt, wider besseres Wissen lange ignorieren lassen.
Kunst der Verdrängung
Der unbedingte Wunsch, dass trotz aller Bedrohungen, „alles genauso so blieb, wie es war“, begreift Bastian nicht nur für sich selbst als elementar: „So deprimierend und beunruhigend all die Zwischenfälle und mittelgroßen Katastrophen waren, die sich damals in immer kürzeren Intervallen ereigneten, so dachten wir dennoch unbeirrt weiter, es handele sich lediglich um weitere Krisen in einer Epoche der Krisen. Danach würde es jedoch unaufhaltsam aufwärtsgehen, was auch immer aufwärts bedeutete. Was hatten wir nicht schon alles überstanden, wobei,wir' nicht einmal Brigitte und ich oder Deutschland, sondern die Menschheit bedeutete.“
Mit dieser Verdrängung verbunden ist, dass Bastian ein Leben aus zweiter Hand führt. Seine Wahrnehmung ist stark medial vermittelt, sodass er sich immer wieder, gerade in dramatischen Momenten, an Film- und Fernsehszenen erinnert fühlt und den Eindruck hat, er agiere und spreche in einer Fiktion. Hieraus erklärt sich auch sein nicht nur berufliches Interesse an immer ausgefeilteren Virtual-Reality-Konzepten: In einer schweren existenziellen Krise lässt er sich alte Videoaufnahmen in VR umwandeln, sodass er durch seine Vergangenheit spazieren kann, als sei sie die Gegenwart.
Steinaecker bricht über seine Hauptfigur nicht den Stab. Er belässt sie in ihrer Widersprüchlichkeit. Bastian ist ein nur bedingt zuverlässiger, doch nicht unsympathischer Icherzähler. Sein Verhalten ist oft nachvollziehbar: Es fügt sich halt eins ins andere, wie es im Leben so ist.
Daher rührt das Erschrecken, das man bei der Lektüre empfinden kann: Es ist, als blicke man in einen Spiegel – und vielleicht hält der Autor, den biografisch manches mit Bastian verbindet, sich in ihm auch selbst einen Spiegel vor. Bastian ist ein schuldlos Schuldiger – wie wir alle. Romane, die eine Zeitdiagnose stellen, sind oft verkappte Leitartikel; in „Die Privilegierten“ aber hat Thomas von Steinaecker unsere Gegenwart auf genuin literarische Weise durchschaut und erfasst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos