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Roman „Die Kellertänzer“Wild, atonal, tragisch

Nils Jockel machte eine Dachboden-Entdeckung. Entstanden ist daraus ein Roman über die Ausdruckstänzerin Lavinia Schulz, die 1924 ihren Mann erschoss.

Präsentation der Funstücke vom Dachboden: expressive Gesten, expressionistische Masken Foto: Miguel Ferraz

Am Anfang wie am Ende fährt unser Held nach Venedig. „Nick Lainwander“ heißt er, er ist Kurator von Beruf, und er besucht wider Willen die Biennale 2022; solide genervt vom dortigen Kunstzirkus, doch hingeschickt von seinem Schöpfer Nils Jockel. Der war seinerseits 35 Jahre lang im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe tätig: als Kurator. „Die Kellertänzer“ ist nach diversen kunstwissenschaftlichen Publikationen und Aufsätzen Nils Jockels Roman-Debüt.

Alles beginnt 1987. Jockel streift mit einer Praktikantin durchs Haus. Es ist ein loser Freitag, nichts ist dringlich zu tun. Sie betreten den Dachboden, wo Jockel inmitten des ganzen Durcheinanders schon öfter drei Holzkisten aufgefallen waren. Müsste man mal reinschauen, bisher blieb es bei dem Gedanken. Nun aber öffnet er die Kisten: „Was wir vor uns sahen, konnten wir erst einmal überhaupt nicht einordnen“, erzählt er. Vielleicht Kostüme? Aber warum dann so barbarisch schwer? Hat die wirklich jemand getragen und wenn, zu welchem Zweck? Und was sind das überhaupt für skurrile Gestalten, die sich aus den Einzelteilen zusammensetzen lassen?

„Alles war so verdreckt, wie ich das noch nie im Museum gesehen hatte: mit Taubenmist überzogen, mit einer klebrigen Schicht Staub.“ Immerhin tragen die Kisten Etiketten, auf denen zwei Namen verzeichnet sind: Lavinia Schulz und Walter Holdt. Wer waren die beiden? Jockel schaut sogleich die Inventarkarten durch: nichts. Dann erinnert er sich an seinen Großvater, den Bildhauer Richard Luksch, einst mit dem Museum verbunden.

Er hat damals für seine Frau Ursula Falke, die während der frühen Weimarer Jahre als Ausdruckstänzerin unterwegs war, Masken entworfen und gebaut. „Ich hatte da so ein Gefühl“, sagt Jockel. Zu Recht, denn in einer kleinen Broschüre, seinerzeit von seinem Großvater anonym verfasst, erwähnt dieser Holdt und Schulz und erzählt von deren Auftritten als Maskentänzer bei damaligen Künstlerfesten: Wo Ursula Falke noch von den elegisch-filigranen Tanzbildern des Jugendstils geprägt war, schlüpften Schulz/Holdt in expressionistisch anmutende Ganzkörpermasken und tanzten, begleitet von wilder, atonaler Musik.

Alles war so verdreckt, wie ich das noch nie im Museum gesehen hatte

Nils Jockel, Kurator und Autor

Nils Jockel versucht zu finden, was noch zu entdecken ist, kennt bald auch die Eckdaten des tragischen Endes des Künstlerpaares, das jahrelang in offenbar prekären Verhältnissen gleich nebenan in der Straße Besenbinderhof mit der Nummer 6 in einer dunklen Kellerwohnung gelebt und gearbeitet hat: Lavinia Schulz, 27 Jahre alt, erschießt am frühen Morgen des 18. Juni 1924 ihren jüngeren Mann Walter Holdt, verstirbt ihrerseits tags darauf im Krankenhaus Hamburg-St. Georg an einer sich selbst zugefügten Schussverletzung. Zurück bleibt ein etwa einjähriges Kind.

Damit es nicht bei einer klassisch kulturhistorischen Recherche bleibt, sondern zum Romanprojekt „Die Kellertänzer“ heranreift, gesellt sich für Jockel ein zweites Moment hinzu, einige Jahre später; die Ganzkörpermasken wurden mittlerweile von ihm ausgestellt, sind nun Teil der Sammlung: „Eines Tages steht bei uns unten in der Eingangshalle ein älterer Mann und sagt zu mir: ‚Guten Tag, ich bin das Kind, und ich würde gerne etwas über meine Eltern wissen‘“, erzählt Jockel; und wie ihn das berührt hat, ist ihm heute noch anzumerken.

„Es ist nun nicht unsere Aufgabe, über Familien zu recherchieren. Wir forschen über die Kunst. Aber dass ich dem Mann so wenig sagen konnte, dass ich ihm so viel schuldig bleiben musste, hat mich nicht losgelassen“, sagt er. Was wiederum seinen Grund hat: „Meine Eltern sind beide früh verstorben, ich bin bereits mit 19 Jahren Vollwaise geworden, und Nachforschungen zu meinen Eltern haben mich zeitlebens begleitet“, sagt er.

Und damit ist ihm jenes Feld vertraut, auf das man sich da begibt: Welche Geschichten, die einem erzählt werden, sind von wem warum verändert oder überformt worden – und gibt es womöglich doch eine Kernerzählung, die am Ende wahr ist, vielleicht?

„Ein großes Thema des Romans ist ‚Anonymität‘“, sagt Jockel. Denn so, wie die beiden Kellertänzer in den von ihnen entworfenen und gebauten Ganzkörpermasken der Welt ihr Innerstes zeigen wollten, ist über ihr eigenes Leben aus eigenen Quellen kaum etwas bekannt. Nur ein einziges Foto von den beiden gibt es – das möglicherweise ein anderes Paar zeigt.

Nils Jockel lässt uns in seinem Roman an dieser Suche teilhaben. Er erzählt von der tiefen Verlorenheit eines Kunstwissenschaftlers, er begleitet ihn durch die verschiedenen Phasen der Erkenntnis, des Zweifels und des Zweifelns.

Das Buch

Nils Jockel, „Die Kellertänzer“, KJM-Verlag, 312 S., 26 Euro

„Es ist das Gefühl, da nimmt mir jemand meine Kinder weg“, beschreibt Jockel aus der Rückschau den Moment, wenn am Ende eine offene Kunstweltrecherche in eine museumsgenehme, abschließende Präsentation überführt wird. Und ergänzt: „Kunsthistoriker und Kustoden reden ja nicht darüber, was sie für ein Verhältnis zu ihren Forschungsprojekten haben, welche Befindlichkeiten und auch welche eigenen Eitelkeiten bei ihnen berührt werden.“

Und daher muss er noch ein letztes Mal persönlich werden, im Sinne der Kunst: „Als ich die Masken hier im Haus das erste Mal ausgestellt habe, habe ich gedacht: Das ist doch völliger Quatsch! Die beiden wollten in diesen Masken tanzen, es ging ihnen um Selbstexposition. Und dann standen da so lustige Comic-Figuren.“

Er schüttelt sachte den Kopf: „Ich weiß nicht, wie ich es besser machen sollte; ich versuche nur, meine Skrupel zu schildern, die ich immer hatte.“ Daraus ist am Ende ein mehrschichtiger Roman geworden, der sehr klug ist und sehr mutig; sehr spannend erzählt auch, was ja nie schaden kann. Und getragen von dem sicheren Gefühl, dass sich in der Begegnung mit dem Verborgenen noch mal eine ganz eigene Welt zeigt, voller neuer Räume.

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