Roman „Die Geschichte der Frau“: Breitbeiniger Anspruch
In „Die Geschichte der Frau“ will Feridun Zaimoglu weiblicher Wut eine Stimme geben, von Antigone bis Valerie Solanas. Der Autor scheitert.
Wer es sich zur Aufgabe macht, politisch marginalisierten Menschen eine Stimme zu geben, muss sich mit dem Problem auseinandersetzen, dass diese Menschen meistens schon eine eigene Stimme haben. Wenn etwa Feridun Zaimoglu in seinem neuen Roman, „Die Geschichte der Frau“, ein historisches Tableau aus der Perspektive von zehn Frauen entwirft, das als Gegenerzählung zu der männlich dominierten Historie dienen soll, dann erscheint die Frage naheliegend, was ausgerechnet ihn – einen männlichen Autor – zum Barden der vergessenen Frau autorisiert.
Immerhin tritt dieses Buch mit einem gewaltigen Anspruch auf, der bereits in den Versen des Vorspruchs zum Ausdruck kommt: „Nach ihren Siegen“, heißt es dort, „lernten die Männer, / Ruhmestaten zu erdichten. / Sie schrieben, sich erlügend, ihre Sagen. / Dies ist der Große Gesang, der ihre Lügen tilgt. / Es spricht die Frau.“ Ähnlich wie in Bertolt Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“, an das dieser Vorspruch angelehnt ist, soll auch hier einer Lügenhistorie der Herrschenden ein revisionistisches Geschichtsbild aus der Perspektive der Unterdrückten entgegengestellt werden.
Dazu lässt Zaimoglu Frauen aus Mythologie und Geschichte zu Wort kommen, darunter Figuren, die direkt dem Who’s who der Literaturgeschichte entstiegen sind, wie etwa Antigone, Brunhild oder Lore Lay, aber auch weniger bekannte historische Figuren wie Prista Frühbottin, ein Opfer der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung. Der Roman endet mit der Stimme Valerie Solanas’, die 1968 ein Attentat auf Andy Warhol verübte. Solanas’ physische und verbale Raserei bildet den Höhepunkt einer weiblichen Menschheitsgeschichte der Wut.
„Die Geschichte der Frau“ erscheint in einer Zeit, in der die Debatte darüber, wem eine Geschichte gehört und wer sie erzählen darf, mit großer Intensität geführt wird.
Feridun Zaimoglu: „Die Geschichte der Frau“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 400 Seiten, 24 Euro.
In den meisten Fällen geht es um die Frage, ob die Erfahrungen marginalisierter Gruppen von Menschen literarisch verarbeitet werden dürfen, die diese Erfahrungen selbst nicht gemacht haben. Gibt es so etwas wie ein narratives Eigentumsrecht, das die Wahlmöglichkeit literarischer Stoffe einschränkt? Oder handelt es sich dabei um einen unerträglichen Eingriff in die Freiheit der Kunst?
Intellektuelle Nebelkerze
Zweifel, ob er diesen Roman hätte schreiben dürfen, hat Zaimoglu selbst in einem denkwürdigen Interview auf Spiegel Online vorsorglich als „Fundamentalismus“ bezeichnet, der zu „Selbstzensur“ führe. Man möchte intuitiv gerne zustimmen. Ein Verbot, aus weiblicher Perspektive zu erzählen, nur weil der Autor ein Mann ist, wäre tatsächlich Ausdruck eines kunstfeindlichen Fundamentalismus.
Es handelt sich allerdings um eine intellektuelle Nebelkerze, die dazu dient, sich den naheliegenden politischen und ästhetischen Problemen, die mit dem Projekt einer „Geschichte der Frau“ einhergehen, nicht stellen zu müssen. Die Rede vom „Fundamentalismus“ klingt, als würde der Autor seinen Kritiker*innen entgegenrufen: Unterbrecht mich nicht dabei, wie ich euch eine Stimme gebe!
Um es deutlich zu sagen: Niemand verbietet Zaimoglu, einen Roman aus der Perspektive von Frauen zu schreiben. Allerdings geht ein solches, explizit politisches Vorhaben mit einem besonderen Anspruch einher, sich mit den machtpolitischen Fragen, die das Thema „Stimme“ betreffen, besonders reflektiert auseinanderzusetzen. Wer hier von „Fundamentalismus“ spricht, übersieht, dass sich politische Zweifel an einem literarischen Projekt selten an der Frage nach dem Was und viel eher an dem Wie eines literarischen Textes entfalten. Es handelt sich um eine Frage des Könnens, nicht des Dürfens.
Zaimoglus „Geschichte der Frau“ scheitert an diesen Ansprüchen, gerade weil er sich den theoretischen Problemen seines Projekts nicht stellt. Ein Mangel an politischer Reflexion führt dazu, dass der Roman als Roman nicht funktioniert.
Unverdaute Recherche
Misstrauisch macht bereits der breitbeinige Anspruch, jetzt endlich einmal eine Revision der Geschichte aus weiblicher Perspektive vorzunehmen, als habe es solche literarischen Revisionen nicht bereits vorher gegeben, wie etwa in Christa Wolfs „Kassandra“ und „Medea“. Während Wolfs mythologische Romane allerdings um die Frage kreisen, ob es eigentlich ganz anders gewesen sein könnte, beschränkt sich Zaimoglus Revisionismus in den meisten Fällen auf einen reinen Perspektivwechsel.
Gerade in der ersten Hälfte des Buches, das sich auf überlieferte Geschichten bezieht, führt das dazu, dass die erzählenden Frauen nur als Chronistinnen männlicher Kämpfe erscheinen. Die Frauen sprechen zwar, allerdings vor allem über die Männer, die sie umgeben. Zippora spricht über ihren Mann Moses, Antigone über Kreon und Ödipus, Judith widmet sich den Problemen ihres Gefährten Judas.
Das liest sich oft wie das zähe Resultat einer unverdauten Recherche, die sich in einer Flut von Namen über die Leser*in ergießt, etwa, wenn die Frauen im Gefolge Jesu in einer glanzlosen Liste am Ende der Judith-Episode nachgereicht werden: „es rufen seine Schwestern Merab und Atara, es rufen die Jüngerinnen Asnath und Ara und Hadassa und Saron …“
Der Roman zeigt ein großes Interesse an der Materialität der mythologischen und historischen Welten, ist aber seltsam uninteressiert am Innenleben der Frauen, die sie bewohnen. Diese Frauen wirken dann auch nicht besonders wütend. Ihr angeblicher Zorn wird selten dargestellt, nur immer wieder behauptet. Brunhild: „Ich habe eine Mordswut in mir.“ Die Trümmerfrau: „Was bin ich wütend.“ Das liegt an der eigentümlichen Indifferenz für die systemischen Gründe der weiblichen Wut. So ist etwa die reale Person Valerie Solanas mit ihrer realen Leidensgeschichte für Zaimoglu kaum mehr als ein Instrument, um seinen poetischen Furor auszustellen.
Politisches und literarisches Scheitern
Dieser Furor schließlich ist auch das größte Problem des Romans, der vor allem auf der Ebene des Stils scheitert. Es handelt sich um eine Prosa, die berauscht ist vom Weihrauch der eigenen Wortmächtigkeit. Das klingt im besten Fall wie liebenswürdig altmodischer Modernismus („Er spricht mahlend, als brannte die glühende Kohle in seinem Mund“), im schlimmsten Fall wie historische Fanfiction, die durch eine veränderte Wortstellung versucht, den Anschein von Andersartigkeit zu erzeugen. So erzeugt dieser Stil vor allem unfreiwillige Komik, wenn der unbedingte Wille zum Dichterischen wieder übers Ziel hinausschießt: „Der Mond schält sich wie Schorf vom Himmel und fällt.“
Es ist eine Prosa, die besessen ist von der Sinnlichkeit der Gewalt – eine Prosa, die vor lauter Blut und Schweiß und Fleisch regelrecht dampft. Über den toten Siegfried heißt es in der Brunhild-Episode: „Blutdunst über nassem schmatzenden Fleisch, die Wunde lebt im Leichnam.“ Und zwei Seiten weiter: „sein Fleisch schmatzt im Tod“. So schmatzt sich dieser Roman von Wunde zu Wunde, wobei es kaum noch als überraschende Ironie erscheint, dass die versehrten Körper, die durch die Handlung paradiert werden, vor allem männliche Körper sind.
Vor allem aber bemerkt man beim Lesen mit steigernder Beklommenheit, dass die alttestamentarische Überspanntheit der Sprache sich über den Verlauf der entworfenen Menschheitsgeschichte kaum verändert. Zwar lockert sich die Prosa zu Beginn der Moderne leicht auf, allerdings klingen die Frauen auch im 19. und 20. Jahrhundert wie die Puppen des immer gleichen poetisch vernebelten Bauchredners. Da tropfen einem Schmeichler seine Komplimente „wie schwarzer Seim von den Lippen“ oder ein Traum ist „das Gespei meiner geschlossenen Augen“. Anstatt den historischen Stationen durch sprachliche Variation gerecht zu werden, werden alle Unterschiede von der Planierraupe einer bemühten Kunstsprache eingeebnet.
Hier liegt auch die gespenstische Pointe des politischen und literarischen Scheiterns des Romans. Denn in dem repetitiven Stil werden die Stimmen der unterschiedlichen Frauen vereinheitlicht und so ihre Individualität geleugnet. Am Ende spricht doch wieder nur der Autor, dessen viriler Stil sich den Objekten seines historischen Gerechtigkeitssinns nicht unterwerfen kann, weswegen sie auch Objekte bleiben und nie zu Subjekten werden. Der Roman wird von einer einzigen Stimme beherrscht, und das ist sicher nicht die Stimme „der Frau“.
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