Roma-Projekt in Griechenland: Roma Lives Matter
Sie stehen noch immer am unteren Ende der sozialen Leiter Griechenlands. Das Theaterstück „Romaland“ will Rom*nja mehr Sichtbarkeit verschaffen.
„Take a knee, not a life“ steht neben einer knieenden Figur im Infografikstil an einer Hauswand an der Platia Amerikis, einem Platz im nördlichen Zentrum von Athen. Es ist eine Gegend, in der viele Geflüchtete und nichtregistrierte Menschen, unter anderem große exilafrikanische Communities, wohnen.
Die Wandmalerei wurde in der Zeit nach der Ermordung George Floyds angebracht, als es auch in Griechenland Black-Lives-Matter-Solidaritätsdemos gab. Dennoch hat ein Polizist wieder einen tödlichen Schuss zu verantworten. Er traf Mitte November einen 17-Jährigen. Das Opfer war jedoch kein Afro-Grieche. Der Jugendliche war der dritte Roma, der in den letzten drei Jahren Polizeigewalt zum Opfer fiel. Alle drei Fälle verliefen ähnlich: Kleinere Delikte in Zusammenhang mit Ungehorsam und Verfolgungsjagden führten zum tödlichen Schuss. Landesweite Demos einer solidarischen Bevölkerung blieben aus.
In diese Leerstelle springt derzeit die Kunst: Im vergangenen Jahr verlegte der griechische Beitrag zur Biennale von Venedig von Loukia Alavanou den Ödipus-Mythos in VR-Optik in eine Romasiedlung am Rand einer Mülldeponie. Im November wurde er in Athen wieder aufgenommen.
Gleichzeitig ging das Dokumentartheaterstück „Romaland“ des in Deutschland und Griechenland produzierenden Regisseurduos Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris in Premiere. Fast, als hätte das Team eine böse Vorahnung gehabt. Die in beiden Fällen fördernde Onassis-Stiftung – die in Griechenland am besten ausgestattete Förderinstitution für die Verbindung von Kunst und gesellschaftspolitische Anliegen – unterstützte den Fokus zusätzlich durch das Streaming eines Films der Regisseurin Marina Danezi und Gespräche.
Emotionaler Moment
„Listen up, balamo / this world is not just for you / We’re God’s children too“, rappen die fünf Darsteller:innen im letzten Drittel von „Romaland“. „Balamo“ ist das Romani-Wort für alle Nicht-Roma. Es ist ein emotionaler Moment, der das Publikum so mitnimmt, dass es in donnernden Solidaritätsapplaus ausbricht.
Selbstverständlich ist das nicht. Im Vorfeld des Athener Theaterabends hagelte es Hatespeech an die Adresse der Onassis-Stiftung. Roma stehen, trotz langjähriger Integrationsförderung aus EU-Geldern, auf der sozialen Leiter immer noch ganz unten in Griechenland, werden stigmatisiert und stereotypisiert.
Im Straßenbild sind sie mit einigen ihrer typischen Beschäftigungen sehr präsent: als Müll- und Schrottsammler:innen, als durch Supermärkte ausgebootete Obst- und Gemüsehändler:innen sowie als Bettler:innen. Drogenhandel und Diebstahl gehören zu den für die übrige Bevölkerung problematischeren Überlebensstrategien. In der Innenstadt wohnen Roma in kleineren Zusammenschlüssen oder individuellen Wohnungen, meist im Souterrain, in den Außenbezirken oft auch in Baracken- und Zeltlagern ohne Elektrizität und fließendes Wasser. Ihre Schulbildung ist gering, immer noch gilt der weitaus größte Teil als nicht alphabetisiert. Ihre Anzahl wird (wahrscheinlich bescheiden) auf zwischen 150.000 und 300.000 geschätzt, die der Gesamtbevölkerung Griechenlands liegt bei 10 Millionen.
Die fünf sich selbst spielenden Darsteller:innen von „Romaland“ kommen aus unterschiedlichen Teilen des Landes. Während die beiden Männer sich trotz Diskriminierungserfahrungen eine relativ stabile Basis-Existenz (wozu Kellnern in 12-Stundenschichten zu 15 Euro Tagessatz gehört) aufgebaut haben, ist es für die Frauen schwieriger – auch weil sie Gewalt von außen wie von innen, beispielsweise häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind.
Mangelnde Schulbildung
Von EU-Programmen wie JustRom, das nicht ins Bildungssystem integrierten Frauen den Zugang zu ihren Rechten erleichtert, konnten sie offenbar noch nicht profitieren. Zwei der Romni haben keine Schulbildung, obwohl eine in ihrer Zeit im Gefängnis ausdrücklich darum gebeten hat, die dritte wurde als Baby an ein kinderloses Paar zur Adoption verkauft und ist bis 14 als „balamo“ aufgewachsen. Alle haben sie jedoch auch extrem rassistisch motivierte Gewalt gegen männliche Familienmitglieder erlebt.
Was alle Darsteller:innen verbindet, ist, dass sie ihre Geschichten erzählen wollen. Dass sie es mit einer – sicherlich auch vom Regieduo herausgekitzelten – Mischung aus Selbstironie und Ernsthaftigkeit tun. Und dass sie Sehnsucht danach haben, sich positiv sowohl mit sich selbst zu identifizieren als auch als Teil der griechischen Gesellschaft.
Avraam Goutzeloudis, der zugleich Schauspieler und Regie-Assistent von „Romaland“ ist, hat sich den Schritt getraut, als erklärter Roma-Künstler innerhalb der griechischen Kulturszene zu bestehen. Auch Melpo Saini, die als Baby adoptiert wurde, hat einiges erreicht: Als 14-Jährige zog sie zu ihren leiblichen Eltern, dann wieder zurück. Lieben tut sie beide, und beide Seiten akzeptieren ihre zwei Identitäten.
Nachvollziehbare Mechanismen
Um eine Art Versöhnungstransfer scheint es auch dem Stück selbst zu gehen. Es setzt dabei auf die Kraft persönlicher Geschichten, die Stereotype nicht unbedingt vergessen machen, sondern vielmehr auf nachvollziehbare gesellschaftliche Mechanismen zurückführen: Dass Menschen eine Bleibe, sanitäre Anlagen, Bildung und Wirtschaftskraft für gesellschaftliche Teilhabe brauchen, und was passiert, wenn sie es nicht haben, ist alles andere als ein Geheimnis.
Ebenso wenig, dass (Kultur-)Leistungen Begegnungen auf Augenhöhe brauchen, um wahrgenommen werden. Geheimnisvoll bleibt dagegen die komplexe Kunst des gegenseitigen Vertrauens. „Romaland“ ist eine der seltenen Enklaven, in denen es entstanden ist. Nun geht es für die Bewohner:innen auf Europatour. Erste Station im Februar ist, falls der niederländische Premieranwärter Geert Wilders bis dahin die Grenzen nicht schließt, Amsterdam.
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