: Röntgen für die Aufklärung
■ Ein interessanter Sammelband setzt sich mit dem fast vergessenen Bestseller-Autor Gustav Frenssen auseinander
Horst Janssen zählte ihn zu seinen Lieblingsautoren. Arno Schmidt erklärte ihn zu einem „unerledigten Fall“: Gustav Frenssen. 1901 hatte Frenssen einen der ersten Bestseller dieses Jahrhunderts vorgelegt, den Bauernroman Jörn Uhl. Jahrelang wetteiferte der Roman mit Thomas Manns ebenfalls 1901 erschienenen Buddenbrooks um die höheren Verkaufszahlen. Die Buddenbrooks siegten.
Als Frenssen im April 1945 starb, hatte er sich vom schriftstellernden Dorfpastor mit sozialdemokratischen Sympathien zum Verkünder eines neuheidnischen „Glaubens der Nordmark“und Anhänger Hitlers gewandelt. In der Nachkriegszeit wurde es still um ihn – bis Arno Schmidt in seinen Nachtprogrammen eine kritische Würdigung einklagte: „Frenssen müßte unbedingt geröntgt werden.“
Dies ist nun geschehen: Ein von dem Hamburger Kay Dohnke und Dietrich Stein herausgegebener reich bebildeter Sammelband vereinigt eine ausführliche Biographie mit einem Dutzend Beiträgen zu Frenssens Werk. Heute fast in Vergessenheit geraten, offenbart sich dieses als überraschend vielfältig und von ästhetischen wie politisch-ideologischen Brüchen und Widersprüchen durchzogen: Die Textsorten reichen vom Trivial- und Heimatroman bis zum Epos, von „Dorfpredigten“bis zu Kriegsgeschichten, von autobiographischen Werken bis zu politischen Pamphleten. Dennoch, oder gerade deswegen, avancierte Frenssen, der zehn Jahre lang in Blankenese lebte, zu einem der einflußreichsten Autoren der ersten Jahrhunderthälfte. 1912 wurde Frenssen gar als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt. 1933 schlug er sich auf die Seite der Nazis. Zwar stießen seine antikapitalistischen Aversionen und Plädoyers für sexuellen Libertinismus nicht nur auf Gegenliebe, doch überwog das Gemeinsame: Frenssen lobte die Ausschaltung der „Partei von Moskau“und der „jüdischen Macht“, forderte die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“und verherrlichte den „heißgeliebten Führer aller Deutschen“noch auf dem Sterbebett.
Mit gutem Grund hat Hamburg also seine „Frenssenstraße“vor einigen Jahren umbenannt. Denn für Frenssen gilt, was Hermann Peter Piwitt mit Bezug auf Gorch Fock formulierte: „Das Unheil beginnt, wo man (...)Straßen, Plätze, Gemeinschaftshäuser nach ihm benennt. Denn plötzlich ist im Bewußtsein der Menschen (...) als Vorbild, als Standbild eingebürgert, was doch als Widerspruch in sich selbst lehrreich hätte sein können.“Dafür gibt es nun dieses Buch. Kai-Uwe Scholz
Kay Dohnke, Dietrich Stein (Hg.): „Gustav Frenssen in seiner Zeit. Von der Massenliteratur im Kaiserreich zur Massenideologie im NS-Staat.“Verlag Boyens, 48 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen