Roadmovie „Rohbau“: Schuld und Süden
Roadtrip mit starker jugendlicher Protagonistin: Der Debütfilm „Rohbau“ von Regisseur Tuna Kaptan erzählt von Arbeitsmigration aus dem Balkan.
In seinem ersten Langfilm, „Rohbau“, widmet sich Regisseur Tuna Kaptan einem gesellschaftlich schwierigen Thema: Die Arbeitsmigration aus dem Balkan und die Ausbeutung von billigen Arbeitskräften, die oft illegal auf deutschen Baustellen tätig sind.
Die Geschichte von „Rohbau“ ist jedoch viel mehr als ein politischer Appell – es ist eine einfühlsame Erzählung über Freundschaft, moralische Dilemmata und die Suche nach Identität. Der Film verbindet soziale Realität mit einem berührenden Roadtrip und erschafft daraus eine eindrucksvolle Erzählung.
„Rohbau“. Regie: Tuna Kaptan. Mit Angjela Prenci, Peter Schneider u. a. Deutschland 2023, 86 Min.
Die Handlung beginnt, als die 14-jährige Irsa aus Albanien, gespielt von Angjela Prenci, unerwartet auf einer Großbaustelle eines Luxusprojekts auftaucht, auf der der Bauleiter Lutz (Peter Schneider) einen wichtigen Termin mit Investoren hat.
Irsa dagegen ist auf der Suche nach ihrem Vater, der als illegaler Bauarbeiter in Deutschland tätig war und spurlos verschwunden ist. Lutz, den wir im Laufe des Films als einen Mann kennenlernen, der innerlich mit eigenen Dämonen kämpft, entscheidet sich, dem jungen Mädchen zu helfen. Auch, weil er die Leiche des Vaters selbst beseitigt hat.
Suche nach Erlösung
Gemeinsam begeben sie sich auf einen Roadtrip von einer an Görlitz erinnernden Stadt über Italien nach Albanien – was zunächst geografisch verwirrend scheint, sich aber im Laufe der Handlung als symbolische Reise herausstellt. Ob die Geschichte zunächst wirklich im sächsischen Görlitz spielt, bleibt unbeantwortet, es gibt aber Indizien wie das Kennzeichen von Lutz’ Auto. Beide Figuren sind dabei auf einer Suche: Irsa nach ihrem Vater, Lutz nach moralischer Erlösung.
Diese Suche bringt die zwei Figuren dazu, ihre Unterschiede zu überwinden und eine ungewöhnliche Beziehung aufzubauen, die berührend und zugleich fragil wirkt. Der Film zeigt, wie zwei Menschen, die nichts miteinander zu tun haben, durch ein gemeinsames Ereignis dennoch auf eine moralisch fragwürdige und doch seltsame Art und Weise verbunden werden können.
Die Kameraführung von Ben Bernhard (auch bekannt für „Alle reden übers Wetter“) ist passend zum Konzept des Films. Es werden gezielt Handkameras eingesetzt, um den Szenen mehr Nähe und Intensität zu verleihen. Der Zuschauer blickt selten aus der Distanz einer totalen Einstellung, sondern bleibt nah an den Figuren, wodurch die Emotionen und die Konflikte der Figuren umso spürbarer werden.
Die Authentizität des Settings trägt ebenfalls zur Stimmung des Films bei: Die Baustelle in Deutschland wirkt roh und kalt, während Albanien dann im warmen Sonnenlicht erstrahlt und eine kontrastierende Atmosphäre von Sehnsucht vermittelt.
Leichte Momente, schwere Schuldgefühle
Auch die Geräuschkulisse unterstützt diese Authentizität. Man hört das Dröhnen der Maschinen und das Klirren von Bauzäunen, wodurch man sich als Zuschauer fast selbst auf der Baustelle fühlt. Der Soundtrack ergänzt diese Stimmung perfekt, insbesondere in Szenen wie der, als Irsa den Kopf aus dem Autofenster hält und die Sonne ihr Gesicht streift, während poppige balkanische Musik im Hintergrund läuft.
Auf ihrer Reise entwickeln Lutz und Irsa eine recht seltsame Beziehung zueinander. Sie streiten, sie schreien sich an und machen Witze, die dann doch durch Momente des Vertrauens gestärkt werden. Szenen wie die, in der Lutz für Irsa Tampons kauft, die sie zuvor an der Tankstelle klauen wollte und dabei erwischt wird und Lutz aus Scham ihr die Tampons und dazu noch einen Teddy schenkt, sorgen für leichte Momente, die zum Schmunzeln einladen.
Diese Auflockerung steht im Kontrast zu den tieferen Themen des Films wie Lutz’ Schuldgefühlen über den Tod von Irsas Vater, den er zu vertuschen versucht hat.
Die Darstellung von Irsa bleibt besonders in Erinnerung. Angjela Prenci verkörpert mit dieser Rolle eine freche, mutige Protagonistin, die trotz ihres jungen Alters mit bewundernswerter Entschlossenheit ihren Weg geht. Peter Schneider als Lutz überzeugt ebenfalls.
Seine inneren Konflikte, seine Schuldgefühle und seine Zerrissenheit werden eindrucksvoll vermittelt, und dennoch wird deutlich, dass Irsa, und nicht Lutz, die wahre Hauptfigur des Films ist. Trotz der Leichtigkeit, die durch Irsas jugendlichen Charakter in den Film einfließt, bleibt die emotionale Schwere von Lutz’ Schuldgefühlen stets spürbar.
„Rohbau“ ist ein Film, der auf mehreren Ebenen funktioniert: Als Roadmovie und als Sozialdrama. Tuna Kaptan zeigt in seinem Debütfilm großes Gespür dafür, schwere Themen auf leichte Weise zu vermitteln, ohne dabei an Tiefe zu verlieren. Ein feinfühliger Film, der sowohl emotional berührt als auch zum Nachdenken anregt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind