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Rimini Protokoll in MannheimAuf Wolkenkratzer schauen

„Urban Nature“ von Rimini Protokoll in der Kunsthalle Mannheim blickt auf die Stadt und die Gegenwart sozialer Spaltungen.

Das Setting der Unterkunft für Wohnungs­lose in „Urban Nature“ von Rimini Protokoll Foto: Alice Brazzit

In Städten leben 5,9 Milliarden Menschen von insgesamt 7,9 Milliarden, erklärt uns der Umwelt- und Wirtschaftshistoriker Enric gleich zu Beginn in der begehbaren Installation „Urban Nature“. Er selbst wohnt in Barcelona und findet das bestens, Städte seien schließlich das perfekte Lebensmodell. Schlimm hingegen seien die Vorstadthöllen (urban sprawls), in denen Ressourcen verschleudert würden, weil dort alle mehr verbrauchen als in der Stadt.

Enric ist einer von sieben Menschen, die in der neuesten Arbeit von Rimini Protokoll Auskunft geben. „Urban Nature“, vor einem Jahr im Centre de Cultura Contemporània de Barcelona uraufgeführt, ist jetzt in der Kunsthalle Mannheim in Kooperation mit dem dortigen Nationaltheater zu besichtigen.

Diese sieben firmieren als sogenannte Ex­per­t:in­nen des Alltags, die zu den Arbeiten von Rimini Protokoll gehören wie hohe Häuser zu einer Stadt. Sie sprechen über ihr Leben, ihren Beruf, ihren Alltag.

In „Urban Nature“ schaut das Regiekollektiv, bestehend aus Helgard Haug, Stefan Kaegie und Daniel Wetzel, von unterschiedlichen Warten auf den Stadtraum und macht Perspektivwechsel möglich. Eine der Expertinnen ist die junge Frau Siham. Ihr Freiheitshunger hat sie in die Stadt getrieben. Im Alter von zwölf Jahren verlässt sie ihre Heimat Marokko in Richtung Melilla, jene spanische Enklave im Norden Afrikas, die immer wieder mit Bildern von Fluchtabwehr von sich reden macht.

Das Stück

„Urban Nature“, Kunsthalle Mannheim, bis 16. Oktober

Mittlerweile lebt Siham in Barcelona auf der Straße, zuerst nächtigt sie in einer Unterkunft für Wohnungslose. Der Bühnenbildner Dominic Huber, der die ebenso aufwändige wie liebevoll akkurate Szenografie verantwortet, hat eine solche in den Ausstellungsraum gebaut. Eine Reihe von Stockbetten mit zerknitterten Laken und bunten Bezügen zieht sich an der Wand entlang. Die Be­su­che­r:in­nen fläzen sich in den unteren Etagen und erfahren per Video, was Siham aus ihrem trostlosen Alltag in der Stadt berichtet.

Mal eine Obdachlose, mal eine Chefin

Die Unterkunft bildet eine der sieben Stationen des lehrreichen Parcours „Urban Nature“. Am Eingang kann man sich entscheiden, ob man lieber nur zuhört und -schaut oder mit Tablet in der Hand mitspielt. Dann bekommt man über Kopfhörer Anweisungen zugeflüstert, mimt mal eine Obdachlose, mal eine Chefin, muss mal hierhin, mal dorthin gehen, schlüpft in die Rolle des Gefängniswärters und in die der Geschäftsfrau. Man spielt Theater, während die anderen die Stadtgesellschaft verkörpern.

Die Variante mit den Tablets eignet sich gut für Digital Natives und solche, denen im Museum schnell langweilig wird. Alle anderen sind mit dem Parcours ohne Tablet gut beraten. So oder so bewegt man sich – in Kleingruppen aufgeteilt – wie ferngesteuert durch die sieben Räume und besitzt so gut wie keinen Handlungsspielraum. Alles hat ein exaktes Timing und läuft ab wie am Schnürchen. Dass man Teil einer Ausstellung oder eines Stücks ist, vergisst man zu keinem Moment, von wegen immersiv. Selbst im Bett besagter Unterkunft, neben einer fremden Besucherin liegend, taucht man in keine andere Welt.

Doch während man Siham bei ihrem notdürftigen Leben zusieht, kann es passieren, dass einem die eigene Privilegiertheit wie ein Kontrastmittel in die Knochen kriecht. Auf Bildschirmen sieht man an den einzelnen Stationen die handelnden und sprechenden Figuren aus Barcelona und vorherige Besucher:innen. Dazu gesellen sich in der Ausstellung diejenigen, die mit dem Tablet die Ex­per­t:in­nen des Alltags spielen. Etwa den Wärter Christian, der im Gefängnis „Quatre Camins“ seinen Dienst tut.

Man erfährt, dass Spanien die höchste Zahl an Gefängnisinsassen gemessen an der Einwohnerzahl aufweist, weswegen es in Barcelona folgerichtig war, dem Thema eine eigene Station zu widmen. Für Mannheim ist es das allerdings nicht. Selbiges gilt für die häusliche Marihuana-Plantage der alleinerziehenden Grafik-Designerin Camila, denn die spanische Cannabiskultur ist mit der deutschen nicht zu vergleichen. So wie Barcelona und Mannheim allein größenmäßig schon nicht viel gemeinsam haben, was man in der Kunsthalle an allen Ecken und Enden merkt, auch wenn sich generelle Überlegungen, etwa zur Zukunft der Stadt und der Entwicklung von Smart Cities übertragen lassen.

Smash Hit „100% Stadt“

Rund 70 Minuten dauert der Rundgang, der zwar kein umwerfendes Erlebnis sein mag, aber dafür einen guten Einblick in Arbeitsweisen und Themen des erfolgreichen Kollektivs bietet. Die Art, wie „Urban Nature“ Barcelona aus unterschiedlichen Winkeln in den Blick nimmt, erinnert an ihren vielerorts absolvierten Smash Hit „100 % Stadt“, der die jeweilige Gesellschaft unterhaltsam ausmisst. Die Stadt als Labor prägte auch schon ihre Theater-Truckfahrt „Do’s and Don’ts“.

Der Besuch bei der Anlageberaterin gemahnt an die legendäre „Hauptversammlung“ der Daimler AG, die zur Readymade-Performance von Rimini Protokoll wurde. Und der Sarg als Symbol für den Zweitjob des Gefängniswärters in „Urban Nature“ wirkt wie ein Zitat aus dem Theaterstück „Deadline“ (2003), von dem man so viel zum Thema Tod und Sterben lernen konnte wie nirgends sonst. Vor sechs Jahren luden Rimini Protokoll dann in ein anderes Museum, die Münchner Glyptothek („Top Secret“) zu einer Art Schnitzeljagd zum Thema Überwachung.

Soziale Spaltungen bleiben ein wiederkehrendes Thema der Gruppe. Am Konferenztisch der Finanzberaterin Calamanda in der 12. Etage heißt es in „Urban Nature“, die Vogelperspektive zu besitzen, den Überblick über die Stadt also, sei ein Zeichen der Macht. Nach sieben Stationen nehmen die Be­su­che­r:in­nen auf Hockern Platz und genießen das Panorama auf Dominic Hubers Stadt en miniature mit ihren Pappwolkenkratzern. Es ist der Blick von oben, der Blick des privilegierten Publikums.

Sein eigentliches Potenzial entfaltet „Urban Nature“ aber erst draußen, in der echten Stadt, in der man plötzlich wie durchs Museum schlendert. Sonst routiniert ignorierte Bettler verdienen auf einmal Aufmerksamkeit, Passanten agieren wie in einer Performance, und die alte Kinderfrage „Wem gehört die Stadt?“ brennt unterm Asphalt. So gelingt es Rimini Protokoll auch diesmal, unseren Blick zu schärfen. Wenn der öffentliche Raum zur Bühne wird, ändert sich eben alles.

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