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Rhythmische SportgymnastikDie weiblichste aller Sportarten

Die Disziplin ist die einzige olympische Sportart nur für Frauen und Mädchen. Schönheit spielt auf der Matte eine zentrale Rolle.

Die Gymnastin Darja Varfolomeev im Finale der Deutschen Meisterschaften 2022 Foto: Schreyer/imago

Berlin taz | Welch ein Szenario: Eine Sportart, in der nur Frauen mitmachen, in der Frauen das Regelwerk bestimmen, Frauen die wichtigen Trainerinnenjobs der Welt besetzen und Frauen entscheiden, wer gewinnt. Wäre das nicht eine Spielwiese für emanzipierte Körperbilder und weibliche Selbstbestimmung fernab patriarchaler Machtstrukturen?

Nun, die Sportart gibt es: Sie heißt Rhythmische Sportgymnastik (RSG) und ist diesen Sommer bei den Olympischen Spielen die einzige Disziplin, die dem weiblichen Geschlecht vorbehalten ist. In etwa so sieht das Ganze aus: Gymnastinnen betreten in glitzernden, eng anliegenden Anzügen den beigefarbenen Teppich. Alle lächeln, fast alle mit rot angemalten Lippen. Alle tragen ihr Haar in einem strengen Dutt mitten auf dem Kopf. Ihre Küren dauern anderthalb Minuten, dazu läuft Musik.

Schönheit & Selbstbestimmung

Dieser Text ist Teil der Sonderausgabe zum feministischen Kampftag am 8. März 2024, in der wir uns mit den Themen Schönheit und Selbstbestimmung beschäftigen. Weitere Texte finden Sie hier in unserem Schwerpunkt Feministischer Kapmpftag.

Sie werfen Bälle, Reifen oder Keulen hoch in die Luft, schlagen Kapriolen und fangen die Geräte auf wundersame Art wieder auf. Die Mädchen und sehr jungen Frauen drehen sich bis zu achtmal auf einem Bein um die eigene Achse, wobei das andere Bein am Ohr anliegt, als gehöre es nicht zu ihnen. Kampfrichterinnen vergeben Noten für Schwierigkeit, Ausführung und Artistik und küren aller Wahrscheinlichkeit nach die Deutsche Darja Varfolomeev zur Olympiasiegerin. Es wird von der „weiblichsten aller Sportarten“ die Rede sein.

Perfektion, Anmut und Leichtigkeit

„Ich verstehe, was die Leute meinen: Es ist eine sehr ästhetische Sportart. Die Gymnastinnen sehen schön aus, weil sie sich schön herrichten. Dann haben sie noch schöne Anzüge an und zeigen im Wettkampf Perfektion, Anmut und Leichtigkeit – so kommen all diese Ideale zusammen.“ Marlene Kriebel, 25, kennt sich aus in der RSG: Als Vierjährige folgte sie ihrer Schwester in die Sportart, mit 14 wurde sie Jugendmeisterin, trainierte an einem Bundesstützpunkt, gewann etliche Medaillen bei Deutschen Meisterschaften. Aktuell ist sie Kapitänin der besten deutschen Gruppe vom TV Dahn aus Rheinland-Pfalz, sie tritt in der Bundesliga an und arbeitet als Landestrainerin in ihrem Verein.

Kriebel weiß, wie viele harte Trainingsstunden es braucht, um eine Übung im Wettkampf leicht aussehen zu lassen: „Viele Leute unterschätzen das, weil man im Wettkampf immer nur das Perfekte sieht.“ Hauptberuflich arbeitet sie als Qualifizierungsingenieurin in der Pharma­branche. Durch den Sport, mit dem in Deutschland kein Geld zu verdienen ist, habe sie sich positive Eigenschaften angeeignet: „Disziplin, Selbstbewusstsein, Eigenständigkeit“.

Die Schminke und der perfekte Dutt gehören auch für Kriebel einfach dazu: „Wenn ich mich für einen Wettkampf schminke, dann möchte ich mich auch wohlfühlen und schön machen.“ Was das auch im Kinderbereich verbreitete Schminken betrifft, frage sie sich schon manchmal: Muss das jetzt sein? Kriebel beobachtet, dass es meist die eigenen Eltern sind, die ihre Kinder vor dem Wettkampf schminken. In ihrem Verein achte man aber auf „Altersgerechtheit“: Für kleine Mädchen gebe es höchstens „ein bisschen Glitzer im Gesicht“, keine knallroten Lippen.

Die Sportgymnastik ist eine Erfindung der Sowjetunion

Laut Reglement gibt es weder für extravagante Anzüge noch für rote Lippen oder Haarstyling Punkte. „Die Frisur muss sauber und fest sein“, so der einzige diesbezügliche Satz im Reglement. Und doch: Kurze Haare? Undenkbar. Ein Stirnpony? Nie gesehen. Die maximale Abweichung vom Ideal: ein Pferdeschwanz. Kriebel sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Gymnastin sagt: Ich schneid’ mir jetzt die Haare kurz, weil ich rebellisch unterwegs bin.“ Sie selbst trägt sie nach der Wettkampfsaison gern etwas kürzer.

Die Sportgymnastik ist eine Erfindung der Sowjetunion, gedacht als eine Art Ballett mit Handgeräten. Im olympischen Mehrkampf gingen seit 1996 mit einer Ausnahme alle Medaillen an Russinnen, Belarussinnen und Ukrainerinnen. In Russland ist die RSG nationale Angelegenheit – und das nicht erst, seit Olympiasiegerin Alina Kabajewa als mutmaßliche Freundin Putins auf den Sanktionslisten landete, die die USA im Zuge des Angriffskriegs auf die Ukraine veröffentlichte. Die Macht der russischen Verbandspräsidentin Irina Viner geht weit über das aktuell für internationale Wettkämpfe gesperrte Land hinaus. Auch, weil seit dem Ende der Sowjetunion Hunderte der dort ausgebildeten Trainerinnen in der ganzen Welt agieren.

„Sehr jung, extrem dünn, sehr lange Beine, kein Gramm Fett, keine Kurven, keine Hüften, keine Brüste, kein Hintern, also gar nichts,“ so beschreibt Guadalupe Aizaga das Schönheitsideal der RSG. Mit der Auswahl Argentiniens gewann sie bei den Südamerikaspielen 2006 die Silbermedaille. Als Fotografin betrachtet sie Gymnastinnenkörper seitdem oft durch die Linse. Das Schönheitsideal mache nicht nur Anleihen im klassischen Ballett, sondern auch in der Welt der Haute Couture: „Das Modeideal ist in der RSG noch extremer. Und dort ist es grotesk, weil du in diesem Sport neben Beweglichkeit vor allem Kraft brauchst. Für Kraft braucht es Muskeln, aber die darf man auf keinen Fall sehen.“

Verspätete Menstruation

Auch Aizaga trainierte in Bue­nos Aires unter einer russischen Cheftrainerin. Die habe große Expertise gehabt, aber eben auch klare Vorstellungen – auf eine simple Formel gebracht: Idealgewicht gleich Körpergröße minus 120. „Der Druck, ein bestimmtes Gewicht zu erreichen, war viel größer als der Druck durch Training oder Wettkampf,“ erinnert sie sich. Aizaga selbst und all ihre Teamkameradinnen hätten mit großer Verspätung erstmals menstruiert, manch eine erst nach Karriereende: „So viel zum Thema weiblichste Sportart!“

Dabei ist auch die physische Beschaffenheit laut Reglement kein Kriterium für die Bewertung der sportlichen Leistung. Anders als in Sportarten, in denen es Gewichtsklassen gibt oder ein geringes Gewicht die Leistung bis zu einem bestimmten Punkt positiv beeinflussen kann – wie dem Skispringen oder dem Klettern –, gibt es in der RSG nur ein Motiv für die oft spindeldürren Körper: das ästhetische Ideal.

Dem entspricht Darja Varfolomeev, fünfmalige Weltmeisterin von 2023, in Perfektion. Hätte die heute 17-Jährige bei exakt gleichen Darbietungen mit zehn Kilo mehr auch gewonnen? Guadalupe Aizaga ist sich sicher: „Nein, die Kampfrichterinnen hätten ihr einfach nicht die gleichen Punkte gegeben.“ Varfolomeev begann als Dreijährige in Sibirien mit dem Sport und wechselte mit zwölf ins deutsche Nationalmannschaftszentrum in Schwaben, wo sie von einer weißrussischen Ex-Gymnastin betreut wird. Nach ihrem WM-Erfolg sagte eine Verbandsfunktionärin: „Wenn man in Stützpunkten und Vereinen fragt, wie sie werden wollen, sagen alle: So wie Dasha.“

Das Ideal: die russische Schule

Auch Guadalupe Aizaga hatte bei Wettkämpfen die Haare immer zum Dutt drapiert. Warum ähneln sich Gymnastinnen rund um den Globus so sehr? „Man kopiert das, was alle machen, das, was die Besten machen“, sagt Aizaga. Das habe auch mit dem jungen Alter zu tun. „Wenn du noch ein Kind bist und so viel trainierst, als wärst du ein Arbeiter, dann gibt es nicht viel Spielraum für Individualität.“ Die Frage, ob man das alles selbst so wolle, stelle sich gar nicht. Das Ideal hätten alle klar vor Augen, auch in Argentinien: die russische Schule.

Ein Blick zum Geräteturnen zeigt, dass Entwicklung möglich ist. Auch hier war das Körperideal bis Ende der 1980er Jahre homogen: möglichst klein, leicht und jung sollten Turnerinnen sein – denn so sahen die Siegerinnen aus Rumänien und der Sowjetunion eben aus. Heute gibt es nicht nur hoch- und ausgewachsene Frauen in der Weltspitze, sondern mit Simone Biles, die vor Sprungkraft nur so strotzt, auch einen Superstar, der mit dem früheren Ideal kaum etwas gemein hat.

Marlene Kriebel und Guadalupe Aizaga zumindest beobachten auch in der RSG Veränderungen. Sie sei überzeugt, sagt Kriebel, dass die Einstellung zum Körperideal in der Weltspitze „toleranter“ geworden ist. Auch der Altersdurchschnitt, sagt Aizaga, sei international gestiegen.

Die Spielwiese, sie darf kommen.

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