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Repression in der TürkeiMassen auf den Straßen – und in den Knästen

Hunderttausende demonstrieren weiter in der Türkei, der Staat reagiert mit Gewalt und Festnahmen. Wer übernimmt nun die Kontrolle über Istanbul?

Mit Pfefferspray und Gummigeschossen gegen die Demonstrierenden – die türkische Polizei geht hart vor, hier in Istanbul am 23. März Foto: Huseyin Aldemir/ap/dpa

„Volksrevolution“ titelte die oppositionelle Zeitung Cumhuriyet am Montag angesichts der Millionen, die den gesamten Sonntag über in der ganzen Türkei gegen die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu protestiert hatten. Nicht nur in Istanbul – wo am Sonntagabend vor dem Rathaus in Saraçhane erneut mehrere Hunderttausend Menschen demonstrierten –, sondern auch in vielen kleinen Städten der Türkei gingen praktisch in jeder Provinz des Landes die Menschen auf die Straße.

Selbst in der Heimatstadt des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, Rize am Schwarzen Meer, marschierten Tausende durch die Stadt und forderten seinen Rücktritt. Bisher hatte dessen AKP dort immer mit 70 Prozent und mehr die Wahlen gewonnen.

Am Sonntag führte die CHP, die Partei İmamoğlus, außerdem eine Abstimmung durch, mit der İmamoğlu zum Präsidentschaftskandidaten der Partei gewählt wurde. Dabei gab es für Nichtparteimitglieder eine extra Urne, mithilfe derer sie ihre Solidarität mit İmamoğlu bekunden konnten. Insgesamt stimmten 15 Millionen Menschen für İmamoğlu ab, 1,7 Millionen davon sind Parteimitglieder der CHP.

Um die Proteste zu unterbinden, geht die Polizei immer radikaler vor. Es gab Hunderte Verletzte, die durch Reizgas und Schlagstock teils so lädiert wurden, dass sie ins Krankenhaus kamen. Am Sonntag wurden außerdem weitere 323 Menschen festgenommen. Insgesamt sind nach offiziellen Angaben seit Beginn der Proteste am letzten Mittwoch 1.133 Verdächtige wegen „illegaler Aktivitäten“ festgenommen worden.

Proteste gehen weiter

Am frühen Montagmorgen ging die Polizei dann gegen missliebige Journalisten vor. Wie die Journalistengewerkschaft Basin-Is mitteilte, wurden 10 ReporterInnen von oppositionellen TV- und Printmedien im Morgengrauen in ihren Wohnungen festgenommen, darunter der bekannte Kolumnist der Zeitung Birgün Barış Ince gemeinsam mit seiner Frau.

Wie seit der Festnahme von İmamoğlu am letzten Mittwoch gingen am Montag außerdem die Massenproteste gegen die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters weiter. Ein Schwerpunkt neben dem Rathaus in Saraçhane war das Rathaus des Istanbuler Bezirkes Şişli.

Die CHP-Spitze befürchtet, dass Erdoğan einen Zwangsverwalter einsetzen will

Am Tag der Verhaftung von İmamoğlu wurden neben ihm selbst 91 Personen aus seinem Umfeld und dem der Istanbuler CHP festgenommen, darunter auch der Bezirksbürgermeister von Şişli, Resul Emrah Şahan. Şahan muss ebenfalls in U-Haft. In Şişli hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan nun im Kleinen getestet, was er offenbar auch für die gesamte Großstadt Istanbul vorhat: Şişli bekam noch am Sonntagabend einen formal vom Innenminister eingesetzten Zwangsverwalter, der Montagfrüh in Begleitung der Polizei sein Amt antrat.

CHP befürchtet Einsetzung von Zwangsverwalter

Seit Ekrem İmamoğlu bei der Wahl 2019 Istanbul gewann und damit die 25-jährige Herrschaft der AKP und ihrer islamistischen Vorgängerpartei beendete, versucht Erdoğan die Stadt mit allen Mitteln wieder unter seine Kontrolle zu bekommen. Nachdem İmamoğlu in drei Wahlen gezeigt hat, dass er an der Urne durch Erdoğan und seine Vertreter nicht zu schlagen ist, erfolgte nun seine Verhaftung, Einweisung in die U-Haft und Suspendierung vom Amt.

Die CHP-Spitze um Parteichef Özgür Özel befürchtet nun, dass Erdoğan wie in Şişli einen vom ihm ernannten Zwangsverwalter einsetzen will, um die Stadt mit Gewalt wieder unter seine Herrschaft zu bringen.

Laut Gesetz wäre das möglich, wenn der Amtsinhaber wegen Zusammenarbeit mit Terroristen angeklagt ist. Nun taucht dieser Vorwurf im gesamten Konvolut der Anschuldigungen durch die Staatsanwaltschaft zwar auch auf, der Haftrichter hat İmamoğlu aber „nur“ wegen der Korruptionsvorwürfe in die U-Haft in das berüchtigte Gefängnis nach Silivri geschickt, wo schon etliche andere Kritiker Erdoğans einsitzen.

Ginge es nach Recht und Gesetz, könnte die CHP, die im Stadtparlament eine komfortable Mehrheit hat, nun einen kommissarischen Bürgermeister aus ihren Reihen wählen, bis die Vorwürfe gegen İmamoğlu geklärt sind. Doch wird der Wille des Volkes ausreichen, um die Zwangsverwaltung Istanbuls zu verhindern?

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8 Kommentare

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  • In Videoaufnahmen von den Auseinandersetzungen ist zu sehen, dass junge maskierte Männer den Wolfsgruß der Grauen Wölfe zeigen. Kann das jemand aufklären? Sind das Provokateure, oder sind es Hooligans, die das Zeichen "unideologisch" verwenden und einfach Bock auf Krawall haben? Oder gibt es einen säkularen Flügel der MHP/Grauen Wölfe, der die Zusammenarbeit mit der AKP ablehnt und dem kemalistischen Nationalismus-Flügel der CHP näher steht?

  • Willkommen im Klub: Die Erdogan-Türkei - Teil der EU-demokratischen Wertegemeinschaft?

    Wie in Rumänien, soll nun auch in der Türkei ein aussichtsreicher Gegenkandidat zum herrschenden Establishment von der Wahl ausgeschlossen werden, das Auswahlmenü auf dem Wahlzettel schon im vorherein von ungenießbaren Gerichten reinigend.

    Aber hier wie dort scheint dies mit den Brüssler Wertekatechismus nicht anzufechten: Mehr als ein „DU, DU!“ ist jeweils von dort nicht zu vernehmen, und dies aus schlechtem Grunde: Die Türkei ist für Ukraine-Strategie unverzichtbar. Man verurteile zwar die Verhaftung von Bürgermeister Imamoglu, so eine Kommissionssprecherin. An der Kooperation in der Ukraine-Frage und bei der geplanten EU-Hochrüstung wolle man desungeachtet festhalten. Noch am Freitag hatte Brüssel den diktatoriden Machthaber in Ankara zum Mitmachen bei der Rüstungsorgie eingeladen und vermutlich mit viel Geld gelockt.

    Auch in Berlin hält man Regierungssprecher Hebestreit zufolge an der Türkei als einer wichtigen Regionalmacht fest, Erdogan hin oder İmamoğlu her.

    Für den Klub der Willigen zur Verteidigung der EUropäischen Demokratie-Werte scheint es keine Beitrittsbedingungen zu geben...

    • @Reinhardt Gutsche:

      Die Geschichte um den rumänischen Kandidaten des Kremls mit dem Vorgehen gegen den aussichtsreichen Herausforderer der türkischen Herzen in einen angeblichen Zusammenhang zu stellen, erscheint mir dann doch etwas sehr konstruiert. Da sollten Sue vielleicht noch mal die Fakten checken.

  • Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sich ein Eigentor geschossen. Ein grandioser Fallrückzieher. Das Volk lässt sich nicht weiter unterdrücken, das Volk steht auf ! Die Menschen sind es leid, gegängelt und belogen zu werden. Und wie immer in solchen Zeiten, dämonisiert der Herrscher die legitimen Rechte des Volkes. Er übt noch mehr Druck und Zwang aus. Recep Tayyip Erdoğan hat längst den Bogen überspannt, will es aber noch nicht wissen.

    • @Salinger:

      Er will Neuwahlen um noch einmal regieren zu können. Bei den nächsten regulären Neuwahlen dürfte er nicht mehr. Bei Neuwahlen jetzt schon. Oder er schafft die Demokratie ab und bleibt einfach so der große Diktator.

    • @Salinger:

      So isses.



      Vom Radar voll erfasst.



      Das Problem: Er stellt die Truppen an der verwundbaren Flanke der NATO und hat einen Hebel mit den Flüchtlingen.



      Die EU kuscht wahrscheinlich wieder aus blankem Opportunismus.



      "Selbst in der Heimatstadt des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, Rize am Schwarzen Meer, marschierten Tausende durch die Stadt und forderten seinen Rücktritt. Bisher hatte dessen AKP dort immer mit 70 Prozent und mehr die Wahlen gewonnen."



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      rosalux.de 2019:



      "Dann müsste sich die EU-europäische Politik vielleicht doch ernsthaft mit Fluchtursachen, Fragen globaler Ungleichheit, ökonomischen Ausbeutungsstrukturen, Klimawandel, Rüstungsexporten sowie mit der eigenen Vormachtstellung und Rolle in globalen Konflikten auseinandersetzen.



      Daher haben EU-Politiker*innen bislang beide Augen gegenüber den systematischen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei verschlossen: Der EU-Türkei-Deal wurde nicht in Frage gestellt, als in der Türkei nach dem versuchten Staatsstreich im Juli 2016 der Ausnahmezustand ausgerufen wurde und zahlreiche Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Lehrer*innen, Jurist*innen und politische Opponent*innen in Gefängnissen verschwanden."



      Ein gordischer Knoten!

    • @Salinger:

      Klar hat Erdogan den Bogen überspannt, aber er hat den Staatsapparat in seinen Händen. Was soll das Volk denn machen außer seinen Protest hunderttausendfach auf die Straße zu tragen? Das wird aber leider so verpuffen wie 2013 die Gezi-Proteste.



      Und die CHP scheint - bis auf die wirklich gute Idee mit der Solidaritäts-Wahlurne - kein Konzept zu haben, wie man Erdogan jetzt zu Fall bringen kann, die rechtsstaatlichen Möglichkeiten dafür scheinen ausgereizt zu sein.



      Und Europa hat außer selbstgefälliger Empörung und Protestnoten nichts zu bieten, womit es Erdogan beeindrucken könnte - die EU ist mehr mit sich selbst beschäftigt als mit allem anderen.



      Korrigieren Sie mich bitte, wenn ich mit meiner pessimistischen Einschätzung daneben liege.

  • Als wenn den türkischen Raus das Votum des Volks interessieren würde. Er ist das Volk, der Staat und der legitimste Groswesir seit Isnogud.