Repression gegen türkische Medien: „Wir sind keine Aktivisten“
Die Pressefreiheit wird vom Erdoğan-Regime immer stärker beschränkt. Auch die Nachrichtenseite Medyascope ist betroffen. Wie sieht sie die Zukunft?

taz: Herr Heyse, unter dem Logo im Eingangsbereich Ihres Büros steht der Slogan „Weil wir frei sind“. Wie frei sind Sie in der aktuellen Situation in der Türkei?
Kaya Heyse: Zurzeit gibt es in der Türkei große Probleme, was die Pressefreiheit angeht. Die Medien, insbesondere der gesamte Mainstream, befinden sich entweder in den Händen der Regierung oder müssen eng mit ihr zusammenarbeiten. Das hat viele negative Auswirkungen, aber die Türkei ist noch kein Russland. Es gibt einen Trend, aber es ist trotzdem möglich, dass Medien wie unsere noch atmen können.
taz: In den letzten Wochen wurden während der Proteste viele Journalist*innen festgenommen.
Heyse: Ja, diese Leute waren bekannte Persönlichkeiten, die immer Fotos von den Protesten an große ausländische Agenturen geschickt haben. Sie waren bereits auf dem Radar der Regierung. Der BBC-Korrespondent Mark Lowen wurde ausgewiesen. Ein schwedischer Journalist sitzt immer noch im Gefängnis. Solche Dinge passieren. Die Regierung könnte gedacht haben, diese Leute geben die Nachrichten an ausländische Mächte weiter.
1974 in München geboren, studierte an der Boğaziçi-Universität Internationale Beziehungen und Politikwissenschaften. Seit 1997 arbeitet er als Journalist. Für seine Berichterstattung über den Afghanistankrieg 2001 und den Irakkrieg 2003 wurde er mehrfach ausgezeichnet. Seit 2019 bei Medyascope als Nachrichtenkoordinator und Entwickler neuer Erlösmodelle.
taz: Haben Sie Bedenken, bevor Sie eine Nachricht veröffentlichen – etwa Sorgen vor Klagen oder polizeilichen Razzien?
Heyse: Natürlich. Bei einigen Artikeln konsultieren wir Anwälte. Wir schreiben die Nachricht, zeigen sie dem Anwalt, und er weist auf problematische Stellen hin. Entweder nehmen wir das Risiko in Kauf oder ändern die Stelle teilweise. Aber was noch wichtiger als der Anwalt ist: Die Nachricht muss den journalistischen Normen entsprechen. Wenn alles doppelt und dreifach überprüft wurde und die Quellen stimmen, und wir an die Meldung glauben, dann veröffentlichen wir sie, auch wenn der Anwalt sie als problematisch ansieht.
taz: Was passiert dann?
Heyse: Wegen unserer Berichterstattung werden wir oft zur Befragung vorgeladen. Außerdem werden unsere Nachrichten häufig blockiert. Wir erhalten dann eine gerichtliche Verfügung. Diese Nachricht muss dann innerhalb weniger Stunden von der Seite entfernt werden. Bis vor ein paar Monaten gab es jede Woche mindestens zehn solcher Verfügungen. Aber der Verfassungsgerichtshof hat vor einigen Monaten eine Entscheidung getroffen, dass sie verfassungswidrig seien. Seitdem haben wir das in den letzten Monaten kaum erlebt. In der Vergangenheit wurden auch unsere Journalisten festgenommen. Es gab Klagen, doch alle Verfahren wurden eingestellt.
taz: Das heißt, die Risiken verringern sich, wenn die Nachrichten sorgfältiger erstellt werden?
Heyse: Ja. Wir bezeichnen uns nicht als alternative oder oppositionelle Medien. Natürlich können die Mitarbeiter ihre eigenen Meinungen haben, aber diese beeinflussen nicht ihre Arbeitsweise. Medyascope ist eine journalistische Institution. Wir sind also keine Aktivisten. In der Türkei gibt es eine enorme Menge an Copy-Paste-Nachrichten. Man nimmt eine Nachricht von einer Plattform und setzt sie auf einer anderen ein. Viele Menschen geraten wegen solcher Praktiken in Schwierigkeiten. Zum Beispiel gab es beim Erdbeben eine Nachricht über einen Dammbruch. Websites nahmen die Nachricht auf. Ein „Influencer“ teilte sie und wurde festgenommen. Inzwischen haben sich die Gesetze in der Türkei geändert. Die Strafe für Desinformation ist nun Gefängnis.
Übrigens bedeutet unser Slogan nicht nur, dass wir von Kapital und Macht unabhängig sind. Wir sind auch von den Einschaltquoten frei. Das bedeutet, dass wir nichts tun müssen, um Klicks oder hohe Leserzahlen zu erzielen. Diese Freiheit ermöglicht es uns, Inhalte zu produzieren und Nachrichten zu publizieren, die über die Polarisierung hinausgehen. Wenn man sich Journalisten in der Türkei anschaut, die allein oppositionell sind, dann sagen die meisten einfach, was die Menschen hören wollen. Wir haben auch eine eigene Leserschaft, aber diese ist sehr divers. Da sind Menschen aus allen politischen Richtungen: Oppositionelle, radikale Linke, Islamisten – es ist ein breites Spektrum. Unser Ziel ist es, Mainstream zu werden und alle zu erreichen: Menschen in Anatolien, in großen Städten und im Ausland.
taz: Sind Sie diesem Ziel nahe?
Heyse: Im Jahr 2019 hatte Medyascope auf allen Plattformen etwa 100.000 Follower. Jetzt sind es eine Million. Unsere monatlichen Ansichten auf allen Plattformen liegen bei rund 200 Millionen. Wir haben gesehen, wie schwierig es geworden ist, sich in der Türkei richtig zu informieren, und erkannt, dass die Leute ein Bedürfnis danach haben. Es gibt viele Menschen, die uns folgen und unsere Inhalte lesen, obwohl sie uns nicht mögen. Wir haben deshalb so viele Leser, weil wir korrekte Informationen liefern und unparteiische Kommentare abgeben.
taz: Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Lage der Medien in der Türkei ziehen?
Heyse: Um die Pressefreiheit in der Türkei steht es sehr schlecht, der Druck der Polizei und die rechtliche Beschränkung der Arbeit unserer Journalisten sind real, aber das größte Problem für Medien wie unsere ist der indirekte Druck, den die Regierung auf uns ausübt.
taz: Welche Art von indirektem Druck?
Heyse: Zum Beispiel machen große Unternehmen bei uns keine Werbung. Sie haben Angst. Während der Wahlen 2023 gab es 45 Angestellte bei Medyascope. Bis zum Ende des letzten Jahres waren es nur noch 30. Jetzt sind wir 18. Das Personal schrumpft. Auch wenn unsere Einnahmen steigen, können sie mit der Geschwindigkeit unserer Ausgabensteigerungen nicht mithalten, weil es Inflation gibt. Da wir wissen, dass wir nicht viel Werbung bekommen können, wenden wir uns an unsere Zielgruppe und bitten unsere Leser um Unterstützung.
taz: Erzielen Sie damit Erfolg?
Heyse: Besonders in Krisenzeiten, wenn große Ereignisse stattfinden und die Menschen am meisten auf korrekte Informationen angewiesen sind, spenden mehr Leute. Wir haben das zum Beispiel gesehen, als der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, verhaftet wurde, oder beim Erdbeben oder während der Wahlen. Wir müssen dies auf die nächste Stufe bringen. Bald werden wir auf ein Abonnementmodell umsteigen.
Aber je mehr Zeit vergeht und je schlechter die Situation wird, denkt man auch: Wird unser Atem ausreichen? Früher haben wir Zweijahrespläne gemacht. Jetzt machen wir nur noch Jahrespläne. Wenn wir beginnen, einen Sechsmonatsplan zu machen, wird die Lage wirklich schlecht. Wir stehen ein bisschen im Wettlauf gegen die Zeit. Ein ähnliches Unternehmen wie unseres, Gazete Duvar, hat vor einigen Monaten plötzlich beschlossen zu schließen. Die Eigentümer wollten kein zusätzliches Geld investieren, und die Unterstützung von Lesern und Zuschauern war nicht genug.
taz: Warum wird nicht genügend gespendet?
Heyse: Viele Menschen sind sich der enormen Kosten von Journalisten, redaktionellen Prozessen und Büromieten nicht bewusst. Früher haben Menschen Geld für Zeitungen gezahlt, um sie zu lesen. Mit der Macht der sozialen Medien sehen die Menschen ständig Nachrichten und denken, dass diese kostenlos sind. Aber so ist es nicht. Diese Denkweise muss sich ändern. Natürlich ist nicht alles die Schuld des Publikums. Manchmal verhalten sich Journalisten faul oder vermischen Journalismus mit Aktivismus.
taz: Ist diese Trennung zwischen Journalismus und Aktivismus in der Türkei nicht so klar wie in anderen Ländern?
Heyse: Als die Mainstreammedien in der Türkei unter Kontrolle gestellt wurden, verloren Tausende von Journalisten ihre Jobs. Einige versuchten, selbst ein Medium zu gründen, aber konnten damit kein Geld verdienen. Andere erkannten die Macht der sozialen Medien und dass die Interaktion dort monetarisiert werden kann. Was sie taten, war, Teil des Polarisierungsprozesses zu werden und nur das zu sagen, was ihre Zielgruppe hören wollte. So sind sie auch zum Aktivismus übergegangen. Langfristig halte ich das nicht für eine gute Sache. Um Journalismus zu betreiben, braucht man eine Institution. Es ist eine Teamarbeit. Es ist ein schwieriger und teurer Job. Einzelpersonen können effektiv sein, aber ich bin mir nicht sicher, ob das für den Beruf langfristig von Nutzen ist.
taz: Medyascope hat also kein Interesse an großer Reichweite?
Heyse: Wir machen keine Nachrichten, um viele Klicks zu bekommen. Aber nehmen wir an, es gibt eine Kundgebung in Saraçhane (dem Stadtteil, in dem sich die Stadtverwaltung Istanbul befindet; d. Red.). Wir schreiben dann einen Artikel: „Wie kommt man nach Saraçhane?“ Das machen wir, um ein Bedürfnis zu erfüllen. Wenn man dann bei Google danach sucht, kommt man auf unsere Seite.
taz: Geben Sie Ihren Journalist*innen Tipps für ihre Sicherheit?
Heyse: Wir verbieten niemandem, zu twittern, aber besonders in Krisenzeiten sagen wir: „Achtet auf die Tweets, die ihr sendet.“ Abgesehen davon gibt es oft Shitstorms. Dann bieten wir unseren Kollegen psychologische Unterstützung an. Wenn ein rechtliches Problem auftaucht und sie ins Gefängnis kommen, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um sie herauszuholen.
taz: Apropos Shitstorm: Ihre Finanzierung aus dem Ausland wurde stark kritisiert. In der Türkei werden Menschen, die Gelder aus dem Ausland erhalten, sogar des Spionierens beschuldigt. Warum?
Heyse: Dieser Vorfall ereignete sich im Sommer 2022. Wir hätten es auch gerne, wenn uns Institutionen in der Türkei finanzieren würden. Aber das tun sie nicht, stattdessen finanzieren sie religiöse Sekten. In der Türkei ist es gesetzlich erlaubt, Gelder oder Stipendien aus dem Ausland zu erhalten. Sie versuchen, eine Foreign-Agent-Geschichte wie in Russland zu etablieren. Als ich 2019 hier angefangen habe, stammten 95 Prozent der Einnahmen aus Auslandsgeldern. Jetzt sind es noch etwa 47 Prozent. Wir haben unsere eigenen Einnahmen erheblich gesteigert.
taz: Was können Sie über die Hindernisse sagen, mit denen ausländische Institutionen konfrontiert sind?
Heyse: Es gibt einige Gesetze und Vorschriften, aber auch Grauzonen. Um sie besser zu kontrollieren, verlangte die türkische Regierung von manchen ausländischen Medien wie Deutsche Welle oder Voice of America, eine Niederlassung in der Türkei zu eröffnen – von anderen nicht. Vieles basiert auf Willkür. Wenn ein Regierungsmitarbeiter auch nur auf eine Meldung stößt, die ihm nicht gefällt, wird das Medium strenger reguliert.
taz: Auch Medyascope?
Heyse: Ja, es gibt Druck. Vielleicht wird die Regierung eines Tages sagen: „Es reicht, Medyascope stürmen und schließen!“ Aber es geht ihr nicht darum, die gesamte Presse zu zerstören. In den letzten Wochen haben wir auch einen Widerstand in der Gesellschaft gesehen. Deshalb glaube ich nicht, dass es der Regierung gelingen wird, die Presse völlig zu eliminieren.
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