Reisetauglich per Ferndiagnose: Abschiebung macht gesund
Ein kranker Sudanese soll abgeschoben werden. Eine Amtsärztin hatte ihr Okay gegeben, ohne den Patienten jemals untersucht zu haben.

Der Asylbewerber litt am Freitag unter Schwindelattacken und starken Kopfschmerzen – mögliche Folge eines gestiegenen Augeninnendrucks. Als er sich in der Notaufnahme meldete, wurde er sofort stationär aufgenommen. „Die Amtsärztin wusste nicht, in welchem Zustand er war“, kritisiert der Anwalt des Sudanesen, Paulo Dias. Er vermutet, dass die Medizinerin nicht einmal persönlich mit den behandelnden Ärzten gesprochen hatte. In ihrem Gutachten steht: „Nach Rücksprache der Ausländerbehörde mit den Ärzten des behandelnden Krankenhauses besteht Flugreisefähigkeit.“
Warum sollte die Amtsärztin schreiben, dass die Behörde mit den Ärzten in Kontakt gestanden habe, wenn sie selbst mit ihnen gesprochen hätte, fragt Dias. Weder die Region Hannover noch das niedersächsische Innenministerium äußerten sich gestern vor Redaktionsschluss zu dem Fall oder der Frage, ob solche Ferndiagnosen gängige Praxis seien.
Dias kritisiert die Behörden. Wenn Asylbewerber abgeschoben würden, verändere das ihr ganzes Leben. „Da können sie wohl erwarten, dass man sie persönlich untersucht“, sagt Dias. Zudem bestehe bei seinem Mandanten eine echte Gefahr für Leib und Leben. Wie lange dieser noch in der Klinik bleiben muss, sei bisher unklar.
Vor einer anstehenden Abschiebung ist die örtliche Ausländerbehörde nicht dazu verpflichtet, die Reisefähigkeit des abzuschiebenden Asylbewerbers zu überprüfen.
Liegt eine Erkrankung vor, müssen der Asylbewerber oder sein Anwalt die Ausländerbehörde auf dieses Abschiebehindernis aufmerksam machen. Und sie müssen es mit einem entsprechenden Attest vom Facharzt belegen.
Die Ausländerbehörde kann dieses vorgelegte Attest dann akzeptieren oder anordnen, dass ein Amtsarzt die medizinischen Befunde überprüft.
S. war Ende August mit dem Fahrrad gestürzt und hatte sich dabei das linke Auge schwer verletzt. Im Oktober musste der Asylbewerber operiert werden. Die Ärzte entfernten ihm die Linse und ersetzten sie durch eine künstliche. Nach der Operation kam es zu Komplikationen. Die Fachärzte des Klinikums Nordstadt schrieben deshalb in ihrem Bericht, dass weitere ambulante ärztliche Kontrollen nötig seien. Wenn erneut der Augendruck ansteige oder es zu einer Infektion komme und dies nicht schnell behandelt würde, bestünde sogar das Risiko, dass S. erblinden könne.
Eine angemessene medizinische Nachsorge sei in Italien, dem Land in das S. nach der europäischen Dublin-Regelung abgeschoben werden sollte, für Flüchtlinge nicht sichergestellt, sagt der Geschäftsführer des niedersächsischen Flüchtlingsrates, Kai Weber. In Italien funktioniere nicht einmal die Unterbringung der Asylbewerber reibungslos. Viele Flüchtlinge schlafen auf der Straße. „Wenn Menschen krank sind, brauchen sie die Chance, hier in Deutschland ein Asylverfahren zu bekommen“, sagt Weber deshalb.
Die Frage, wie gut Asylbewerber in den Ländern, in die sie abgeschoben werden, medizinisch versorgt würden, werde von der Politik ausgeblendet, kritisiert Weber. Es solle verhindert werden, dass Abschiebungen an gesundheitlichen Gründen scheiterten. „Es geht nur darum, ob sie den Flug zum Zielort überleben“, sagt Weber. Deshalb würde den Patienten lediglich eine „Flugreisefähigkeit“ und nicht wie zuvor eine „Reisefähigkeit“ attestiert.
Ferndiagnosen eher selten
Im Fall von S. schrieb die Amtsärztin, dass er „flug-/reisetauglich“ sei, wenn er von einem Arzt begleitet und mit Medikamenten versorgt werde. Die Augenerkrankung war der Amtsärztin bekannt, ein Hindernis sah sie darin nicht. Laut Weber sind solche Ferndiagnosen die Ausnahme. „Viele Amtsärzte machen ihre Arbeit sehr gewissenhaft.“ Es gebe aber auch schwarze Schafe, die „beflügelt durch die Wünsche der Behörden“ auf die Untersuchung der Asylbewerber verzichteten.
Für Anwalt Dias hätten Flüchtlinge das Recht, bei drohender Abschiebung von einem Amtsarzt untersucht zu werden. Ein Gutachten auf ältliche Berichte zu stützen, sei gefährlich: der Gesundheitszustand könne sich ändern.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?