Reisebericht über Nachkriegsdeutschland: Eine Stille aus Fragen
Der italienische Schriftsteller Carlo Levi bereiste 1958 das gespaltene Nachkriegsdeutschland. Sein Reisebericht ist feinfühlig und poetisch.
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Man würde an dieser Stelle, fehlte es nicht an Platz, gern die ganze Seite zitieren, auf der Carlo Levi dieses Land mit der medizinischen Metapher des Herzens seziert. Denn Levi schreibt in seinem Reisebuch „Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958“ mit bewundernswertem sprachlichem Feingefühl über deutsche Befindlichkeiten 13 Jahre nach dem Ende des NS und des Holocaust, über die Weltteilung auf deutschem Gebiet, und zum Glück auch über persönliche kleine Triumphe.
Als Levi etwa in Ostberlin ist, kommt er auch zu einem Haus in Mitte, von dem ihm gesagt wird, es sei das „Haus von Göring“ gewesen (gemeint ist wohl das ihm unterstellte Reichsluftfahrtministerium in der Wilhelmstraße oder das zweiteilige „Haus der Flieger“ zwischen Leipziger und Niederkirchnerstraße, wie auch im Anhang erläutert wird). Dort tut er in einem einsamen Augenblick etwas, das für ihn erleichternd in jeglichem Sinne ist, nicht nur für die Blase: „Meine Freunde und ihre Frauen warten im Automobil auf mich. Da ich nun endlich allein bin und die Damen mich nicht sehen können, nutze ich, ohne groß darüber nachzudenken, die Abgeschiedenheit des Augenblicks, um im Dunkeln gegen die Mauer zu pinkeln.“
Diese Passagen bleiben hängen; sie zeigen, dass Carlo Levi (1902–1975) nicht nur ein toller Schriftsteller war, sondern dass er auch das Herz am richtigen Fleck hatte. Der gebürtige Turiner war Mitgründer der antifaschistischen Gruppe Iustizia e Libertà (Gerechtigkeit und Freiheit), er wurde vom Mussolini-Regime verfolgt. 1934 wurde er in Rom inhaftiert, in den beiden Folgejahren erst nach Grassano und daraufhin nach Aliano in der abgelegenen süditalienischen Region Basilikata verbannt. Von dieser Zeit handelt auch sein berühmtestes Werk „Christus kam nur bis Eboli“, das 1947 erstmals auf Deutsch erschien.
Carlo Levi
„Alles Deutsche ist nichts weiter als Hass“
Es erstaunt, dass der in Italien 1959 erschienene Bericht seiner Deutschlandreise („La doppia notte dei tigli“) erst jetzt in deutscher Sprache erscheint, vor allem aufgrund der hohen literarischen Qualität. Dass es zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung für seine Gedanken in Deutschland keinen Markt gab, wundert weniger, der immer noch hässliche Deutsche wird hier in aller Ausführlichkeit dargestellt. Der Titel ist faustisch; er bezieht sich auf eine Stelle in Faust II, in der Fausts Türmwächter Lynkeus die von Faust verursachte Zerstörung beschreibt („Welch ein gräuliches Entsetzen / Droht mir aus der finstern Welt! / Funkenblicke seh ich sprühen / Durch der Linden Doppelnacht …“).
Levi besucht nicht nur Berlin, seine Reise führt von München über Dachau, Augsburg, Ulm, Stuttgart, Schwäbisch Hall und Tübingen nach Berlin. Im Hofbräuhaus in München begegnet er erstmals Deutschen, er zeichnet ein Gespräch mit einer Antifaschistin nach, die dem jungen demokratischen Deutschland nicht traut und die ihr Seelenheil im Alkohol sucht („Alles Deutsche ist nichts weiter als Hass“).
Levi besucht das KZ Dachau; die Orte, an denen dort gemordet wurde. Er spürt dem deutschen Geistesleben des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Tübingen nach. Er sinniert auch über die Mentalität „der“ Deutschen, attestiert ihnen eine lang angelegte gestörte Verbindung zu ihren Gefühlen. Eine innere Spaltung habe „eine monströse und isolierte Entwicklung der Gefühle hervorgebracht“, dies habe zur „Gefühlsbetontheit der Expressionisten und der Romantiker“ einerseits und zur „unempfindlichen Linse der reinen Vernunft und Staatsräson“ andererseits geführt.
Mischung aus Betrachtung und Beschreibung
Zentral ist aber der Berlin-Besuch, wo er zwei Ideologien aufeinandertreffen sieht, die sich selbst nicht recht zu trauen scheinen und die deswegen umso mehr Dominanz demonstrieren müssen. Schön für Berlin-Liebhaber auch die Stelle, wo ein Mann, den er vor seiner Reise in die geteilte Stadt bei einem Abendessen trifft, um dieses Berlin trauert. Alles könne man den Sowjets überlassen, nur die Spreemetropole nicht: „Wie kann man Berlin, das intelligente, wunderbar verkommene, vergeistigte, dekadente Berlin, ihrer Tugendhaftigkeit anvertrauen? Sollen sie sich den ganzen Westen nehmen, aber uns Berlin lassen.“
Diese Mischung aus Betrachtung und Beschreibung, mit den poetischen und politischen Zwischentönen, ist altes Feuilleton im besten Sinne, wie es gerade im Verschwinden begriffen ist. Man fühlt die BRD und die DDR des Jahres 1958 mit dem Autor, gerade in der Rohheit und der Gefühlskälte, die jene 1950er Jahre mit sich brachten. „Deutschland versteckt sich nicht vor anderen: Es versteckt sich vor sich selbst“, schreibt der Autor eingangs. Was das en détail auf den Straßen eines Staates bedeutet, der eineinhalb Jahrzehnte zuvor das größte Menschheitsverbrechen überhaupt angezettelt hat, das beschreibt Levi eindringlich, eindrücklich und präzise.
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