Kommentar: Reine Kosmetik
■ Warum ein neues Wahlrecht in der Bürgerschaft auch nichts ändert
Das will nicht recht überzeugen. Die Unzufriedenheit mit den realen Zuständen in der Bürgerschaft und deren Fraktionen lässt sich zwar leicht nachvollziehen, dürftig jedoch sind die Hoffnungen auf eine Besserung per Wahlrechtsreform.
Denn eine Personenwahl in übersichtlichen Wahlkreisen macht VolksvertreterInnen nicht unabhängig von ihrer Partei, schon gar nicht in einer etwas groß geratenen Kommune, die sich Stadtstaat nennen darf. Wer in seinem Quartier um jede einzelne Stimme gebuhlt hat, wird anschließend im Parlament dennoch zum Claqueur gemacht. Fraktionszwang, Koalitionsdisziplin und Anbiederung bei den eigenen ChefInnen lassen sich durch kein Gesetz verhindern.
Zudem hätte der jetzige Vorschlag auch 1997 Rot-Grün eine – wenn auch knappe – Mehrheit verschafft, zugleich aber FDP, Statt und DVU den Weg ins Parlament geebnet: Der Fortschritt ist mithin nicht ersichtlich.
In der Tat gibt es nur einen einzigen Aspekt, der eine Reform lohnen könnte: die jahrelange beharrliche Verweigerung von SPD und CDU, sich mit dem Thema überhaupt zu befassen. Die beiden Großen nämlich können mit dem jetzigen Zustand prima leben. Ihre Listen sind das Produkt interner Kungeleien und Seilschaften; den WählerInnen bleibt nur die Entscheidung zwischen allen oder keinem.
Die Verteilung von Macht in Partei und Staat würde der jetzige Vorschlag vielleicht erschweren, transparenter und demokratischer aber würde sie kaum. Reine Kosmetik also, mit beträchtlichem Aufwand. Und ganz ohne Entschädigung.
Sven-Michael Veit
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