Reichtumsforscher über Berlin: „Abstammung war hier nie so wichtig“
Reichtum entstand in Berlin vor allem mit während der Industrialisierung erfolgreichen „Selfmademen“, sagt der Potsdamer Historiker Hanno Hochmuth.
taz: Herr Hochmuth, es heißt immer, über Reichtum sei relativ wenig bekannt. Wie gehen Sie als Historiker an das Thema heran?
Hanno Hochmuth: Es stimmt, dass sich die historische Forschung viel mehr dem Thema Armut gewidmet hat. Bei der Stadtgeschichte, die ich betreibe, ist Armutsforschung seit 100 Jahren ein fest etabliertes Sujet, der Reichtum kommt dagegen oft viel zu kurz. Dabei spielt gerade bei der Stadtgeschichte die sozialräumliche Analyse – also wo wohnen die Reichen und wo wohnen die Armen und wie verhalten sich die Quartiere zueinander – eine wichtige Rolle.
Was wissen Sie denn über Reichtum in Berlin, etwa im Unterschied zu Hamburg?
Hamburg war ja seit dem Mittelalter, seit der Hanse, eine reiche Kaufmannsstadt. Es gab dort eine reiche Bürgerschaft, deren Macht und Einfluss auf das städtische Geschehen sehr stark auf ihrem Handelserfolg und ihrem ökonomischen Kapital als Kaufleute mit weltweit verzweigten Verbindungen basierte. Berlin war zwar im Mittelalter auch eine Hansestadt – und übrigens im 13./14. Jahrhundert der wichtigste Handelspartner von Hamburg – aber im 15. Jahrhundert so unwichtig geworden, dass die Hanse Berlin nicht zu Hilfe kam, als die brandenburgischen Kurfürsten, die Hohenzollern, hierher kamen, das Schloss bauten und Berlin zu ihrer Residenzstadt machten.
Hanno Hochmuth,
43, ist gebürtiger Prenzlauer Berger und Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.
Wieso hätte die Hanse das denn tun sollen? Also was war das Problem für die Händler und Kaufleute, als Berlin Residenzstadt wurde?
Die Kurfürsten beschnitten die Bürgerrechte der vormals freien Handelsstadt Berlin. Das fanden die Berliner übrigens gar nicht witzig und setzten 1448 die Baustelle des Stadtschlosses unter Wasser. Letztlich blieb dieser sogenannte Berliner Unwille aber erfolglos und die Berliner Bürgerschaft verlor ihre Privilegien.
Welche Konsequenzen hatte dies im Vergleich zur Geschichte Hamburgs?
Das ist eine entscheidende Weggabelung in der Geschichte beider Städte. Beide waren eigentlich Handelsstädte, beide hatten reiche und selbstbewusste Kaufleute. Aber Berlin entwickelte sich ab dem 15. Jahrhundert zur Residenzstadt mit Hofstaat und Adel, später als königlich-preußische Residenz sogar im Bereich der großen europäischen Mächte. In Hamburg lief die Macht der Kaufmannsschaft und das Selbstbewusstsein der Bürger ungebrochen weiter.
Was passierte mit den Berliner Handelsfamilien?
Sie konnten ihre Macht nicht mehr so entfalten. Das kann man auch schön am Stadtwappen sehen. Früher war das ein selbstbewusster Berliner Bär. Als aber die Hohenzollern kamen, setzten sie dem Bären einen Adler auf, der seine Krallen in den Rücken des Bären bohrt. Der Adel war der Adler, der die Rechte des Bürgertums – des Bären – beschnitt. Erst im 19. Jahrhundert näherte sich die Geschichte beider Städte wieder einander an, als das Zeitalter der Industrialisierung in beiden Leute hervorbrachte, die zu enormem Reichtum kamen.
Berliner Reichtum entstand also eher im 19. Jahrhundert?
Ja, das kann man so sagen. In Hamburg gibt es reiche Bürgerfamilien, die sich zum Teil bis ins Mittelalter oder in die frühe Neuzeit zurückverfolgen können und seither ihren familiären Reichtum vererben. Man muss sich das ein bisschen wie bei den Buddenbrooks in Lübeck vorstellen. In Berlin gab es das so nicht: Diejenigen, die hier zu Reichtum kamen im 19. Jahrhundert, waren meist „Selfmademen“.
Zum Beispiel?
Ein ganz wichtiger Selfmademan hat seinen Reichtum 300 Meter vom heutigen taz-Haus begründet: Werner von Siemens. Eigentlich hieß er nur Siemens, geadelt wurde er später. Er hat in der Schöneberger Straße seine ersten Hinterhofräume gehabt und dort mit Elektrizität gearbeitet und wurde dadurch reich. Später hat er in der Markgrafenstraße, noch näher am taz-Gebäude, seine Fabriken expandiert und Siemens zum Weltunternehmen aufgebaut – beziehungsweise seine Nachfolger.
Wen gab es noch?
Das gleiche gilt für August Borsig, Begründer der Borsigwerke, oder für Johann Friedrich Ludwig Wöhlert, der ebenfalls ein wichtiger Eisenbahnbauer wurde. Es gab damals auch ein Viertel in Berlin, das so etwas war wie heute Silicon Valley in San Fransisco, wo sich die frühe Industrie richtig geballt angesiedelt hatte: Man nannte es das „Feuerland“. Das ist die Gegend nördlich vom Oranienburger Tor, östlich der Chausseestraße: Dort hatten Borsig, Wöhlert und Schwarzkopff ihre Fabriken – und auch ihre Villen.
Sie wohnten neben ihrer Fabrik?
Ja, dieser frühe Reichtum wurde gleich neben der Fabrik zur Schau gestellt. Das waren ja neureiche Männer, keine reichen Erben, sondern einfache Handwerksmeister, die in der Regel auch nicht alt wurden, weil sie einen sehr ungesunden Lebensstil hatten. Sie nutzten die Handels- und Gewerbefreiheit in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts und bauten auf Eisengießereien und ähnlichen Fabriken, die vom preußischen Staat sehr gefördert wurden, riesige Firmenimperien auf. In Hamburg gab es auch Industrielle, aber die Handelsgilden und -kontore blieben doch dominant. Ich würde mich sogar zu der These hinreißen lassen, dass in Hamburg Abstammung eine viel, viel größere Rolle spielte als in Berlin. Berlin war schon immer, spätestens aber seit dem 19. Jahrhundert, eine Stadt der Newcomer. Über Generationen gewachsene familiäre Netzwerke waren hier nie so wichtig.
Berliner „Dynastien“ sind daraus nicht entstanden?
Diese Imperien wurden schnell so große und internationale Aktiengesellschaften, dass sie mit den Gründerfamilien bald nichts mehr zu tun hatten. Aber es gab auch in Berlin Industriedynastien, man denke an die AEG mit ihrem Begründer Emil Rathenau und seinen Sohn Walther, Außenminister der Weimarer Republik, der 1922 in der Grunewalder Koenigsallee erschossen wurde. Walther Rathenau begründete ja seinen Einfluss in der frühen Republik nicht nur mit seiner staatsmännischen Geste, seinem sicheren Auftreten und seiner Erfahrung, sondern auch mit seinem Geld und damit, dass hinter ihm dieses Imperium stand. Er war Politiker und Großindustrieller. Leute dieses Schlages haben der Stadt um die Jahrhundertwende auf jeden Fall ihren Stempel aufgedrückt.
Wie wurde dann der Grunewald zum Reichenviertel, wenn die „neuen Reichen“ damals neben ihren Fabriken wohnten?
Genau wie die Fabriken mit der Zeit aus dem Zentrum weggezogen sind, weil sie zu groß wurden und es in der Stadt keinen Platz mehr gab, sind auch die Besitzer hinausgezogen. Aber es gab ja nicht nur diese Großunternehmer, es gab auch ein Bildungs- und Besitzbürgertum aus Unternehmern in der zweiten Reihe. Und für die war es sehr wichtig, einen Wohnort zu wählen, der ihrem Status entsprach. Auch sie machten eine Randwanderung.
Wo lebte das Bürgertum denn zuerst?
Im 18. Jahrhundert gab es die barocken „Neubauviertel“ in der Friedrichstadt westlich vom Schloss. Das hatte auch den Grund, dass man hier quasi auf dem Weg in die anderen Residenzstädte, Potsdam und Charlottenburg, wohnte. Wenn man dem König und dem Adel nah sein wollte, weil man dessen Gunst brauchte, war es klug, in räumlicher Nähe zu wohnen. Im 19. Jahrhundert war in der Friedrichstadt dann alles voll, und das Bürgertum zog weiter Richtung Westen, ins Tiergartenviertel, wo heute die Botschaften sind. Als das auch nicht mehr reichte, ging man in den „Neuen Westen“ nach Charlottenburg, in Richtung Schloss Charlottenburg und vor allem zum neuen Kurfürstendamm, der damals angelegt wurde. Dass der Westen so beliebt war beim reichen Bürgertum, hatte aber auch einen ganz simplen Grund: den Wind.
Den Wind?
Wir haben in Berlin und überhaupt in Mitteleuropa, zumindest vor dem Klimawandel, zu 70 Prozent Westwindlagen, atlantische Tiefausläufer. Deshalb ließen sich im 19. Jahrhundert, als die ganzen Fabriken gebaut wurden, die Unternehmer, die sich das leisten konnten, dort nieder, wo die Luft noch nicht stank, noch nicht von den Industrieabgasen verpestet war. Und das war im Westen. Das heißt, die grundsätzliche sozialräumliche Aufteilung Berlins – in einen bürgerlichen Westen und einen proletarischen Osten – existiert viel länger als die Teilung der Stadt nach 1945. Dasselbe gilt übrigens für Paris, wo der Westen auch reicher ist als der Osten, und für London mit seinem reichen West End und dem armen East End. In Berlin wurde diese sozialräumliche Ost-West-Achse erst nach der Wende durchbrochen mit der Gentrifizierung von Prenzlauer Berg: Jetzt gibt es Reichtum auch im Osten. Aber das nur am Rande. Damals war es im Westen einfach nur schön, es roch gut.
Im schönen Grunewald.
Ja. Es gab damals sogenannte Terraingesellschaften, also Bauunternehmer, die die Gegend planmäßig erschlossen und dort Villenviertel gebaut haben. Diese Vorortgemeinden, die damals ja alle noch nicht zu Berlin gehörten, haben das gehobene Bürgertum gezielt angelockt, indem die Grundsteuer enorm niedrig war. Dennoch blieb für Gemeinden wie Charlottenburg genug übrig, weil die Leute, die dort wohnten, eben so reich waren. So wurde damals Standortpolitik betrieben – und der Westen reich.
Heute sagt man, das Problem am Reichtum sei, dass die Reichen mit ihrem Geld die Demokratie unterhöhlen, durch Lobbyismus, Stiftungen, Museumsbauten etc. Gab es das damals auch?
Es gab ein starkes Mäzenatentum, dem wir in Berlin viele Kultureinrichtungen oder auch Kirchengebäude verdanken. Im Westen kann man das sehr gut sehen, etwa an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die nicht vom Staat gebaut wurde, sondern mit Geld von einem Kirchenbauverein und vor allem durch satte Spenden von sehr reichen Charlottenburger Bürgern. Die versuchten sich so auch die Gunst des Hohenzollern-Herrscherhauses zu erhalten und vielleicht die nächsten staatlichen Aufträge zu sichern. Diese Verquickung von Spendenbereitschaft, Mäzenatentum und öffentlichen Aufträgen war im Kaiserreich extrem ausgeprägt, besonders in Charlottenburg. Das war damals die reichste Stadt Preußens! Zwar gab es auch proletarische Ecken, Heinrich Zille lebte dort und hat sehr einfache Leute porträtiert. Aber insgesamt war die Stadt sehr wohlhabend.
Darum war Charlottenburg gegen die Einheitsgemeinde Groß-Berlin?
Genau. Groß-Berlin wurde erst 1920 möglich, als auf einmal der gesamte preußische Landtag darüber abstimmte, der sozialdemokratisch dominiert war und in dem Abgeordnete aus Gegenden von Königsberg bis Koblenz saßen. Der Charlottenburger und Wilmersdorfer Widerstand gegen die Fusion wurde da einfach weggewischt. Denjenigen, die dem dortigen Bürgertum angehörten, war natürlich klar: Gehen sie mit dem ärmeren, „proletarischen“ Berlin zusammen, verlieren sie an Einfluss – und müssen auch noch von ihren vielen schönen Steuern abgeben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin