Reichsbürger und andere Enttäuschungen: Spinnert werden im Alter
Bildung und solide Karrieren schützen nicht vor Dummheit im Alter. Besonders betroffen sind Männer, die alles auf eine Karte gesetzt haben.
R und um die Weihnachtsfeiertage treffe ich meist meine gute, alte Freundin H., die – eines erwachsenen Kindes wegen – in der Stadt weilt. H. ist 86 und das, was man „lebensklug“ nennt.
Formale Bildung hat man ihr zu ihrem ewigen Leidwesen in der Jugend verweigert. „Das brauchste als Mädchen nicht“, Sie wissen schon. H. hat drei Kinder großgezogen, die alle furchtbar gebildet und klug sind und deshalb zu ihrem Bedauern nicht so viele Enkelkinder produzieren, aber das ist ein anderes Thema.
In diesen Tagen beschäftigen H. diese Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker und Coronaleugner, weil – wie sie selbst sagt – das an so eine Urangst von ihr rührt. Der Angst, irgendwann im Alter „spinnert“ zu werden und es selbst nicht zu merken.
Wie kann denn das sein, hebt sie an, dass da Leute bei sind, die gebildet sind und ordentliche Karrieren hingelegt haben. Dieser Polizist zum Beispiel, den sie suspendiert haben – nach fast 40 Jahren mit makelloser Dienstakte! Oder dieser Professor von der Uni, der war doch mal wer! Der saß sogar in irgendwelchen Regierungsberatungskommissionen.
Die Pensionierung als Sollbruchstelle
Na ja, sage ich, weil ich weiß, dass H. solche Küchenpsychologie sehr liebt, ist nicht genau das das Problem? Irgendwann im Leben kommt der Punkt, an dem du einsehen musst, dass es jetzt nicht mehr aufwärts geht.
Dass dies die höchste Stufe auf der Karriereleiter ist, die du erklimmen konntest, dass der ganz große Durchbruch ausgeblieben ist, nicht alles, was einmal vielversprechend begonnen hat, zur vollen Blüte kommen kann. Irgendwie bleiben wir am Ende doch alle unter unseren Möglichkeiten.
Und bei manchen ist dieser Punkt eben die bevorstehende Pensionierung, nicht? Vor allem bei Männern, die alles auf diese eine Karte gesetzt haben. Wir können ja immer noch den Kindern ein bisschen was davon in die Schuhe schieben.
H. guckt, als sei ihr ein Kronleuchter aufgegangen. Du hast recht, sagt sie begeistert, denk’ mal an I.! Der I. war einmal ein wirklich guter Freund von ihr. Ein freundlicher Mann, der sich zu ihrer großen Enttäuschung eines Tages der AfD zugewandt hat.
Den haben sie doch auch ausgesteuert, sagt sie. Aus gesundheitlichen Gründen früh pensioniert, zum sozialverträglichen Arbeitsplatzabbau. Oder der F.! Der die Brocken selber hingeworfen hat, nachdem er mit der x-ten neuen Software nicht mehr klar kam und man ihm so einen Jungspund vor die Nase gesetzt hatte.
Vielleicht altern manche Männer schlechter?
Vielleicht, überlegt sie, altern Männer auch einfach schlechter? Können sich nicht eingestehen, dass die Kräfte nachlassen, sie nicht mehr mitkommen, nun mal andere dran sind?
Na, das stimmt ja nun so auch nicht, protestiere ich, weil ich das Gefühl habe, sie ist jetzt kurz davor, im Mitgefühl zu zerfließen und jedem Reichsbürger einzeln tröstend über den Kopf streicheln zu wollen. Erstens sind da ja auch viele Frauen dabei. Und zweitens gibt es auch Männer, die hinreißend altern. Denk mal an L.!
H. zieht missmutig die Stirn kraus. Na gut, sagt sie bockig, aber irgendwas ist da schon dran. Jetzt werd’ mal nicht wunderlich, sage ich.
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