Reichelt, Kurz, Merz und Co.: Geltungssüchtiger Affentanz
Ein Netzwerk aus moralisch korrupten Personen und eine Öffentlichkeit, die verzeiht. Weil es das gibt, ist die Stehauf-Männlichkeit erfolgreich.
W ahrscheinlich habe ich verdammt viele falsche Entscheidungen getroffen. Denke ich, während ich über dem Kostenvoranschlag für meine neue Heizung brüte – und nebenbei lese, das Julian Reichelt bald eine neue Medienplattform aufmacht.
Reichelt ist im Oktober beim Springer-Verlag rausgeflogen, weil er ein System aus Machtmissbrauch und sexualisierten Abhängigkeiten aufgebaut (und darüber gelogen) hatte. Nun flötet der Ex-Bild-Chef im österreichischen, tendenziell von rechts finanzierten Sender „Servus TV“ etwas über sein neues – vages – Businessmodell und twittert auf dem Rückweg gleich Unsinn aus der Bahn, um sich zu promoten. Ich wärme mir die Hände an zwei hartgekochten Eiern.
Vielleicht hätte ich so einer werden können wie der Reichelt: gescholten, geschasst, gecancelt – einundzwanzig, zweiundzwanzig: Medienunternehmer und gefragtes Enfant terrible der politischen High Society. In Österreich, ebenda, wo sie erst neulich noch ein anderes Stehaufmännchen rausgeworfen haben. Sebastian Kurz, der Ex-Kanzler, arbeitet jetzt beim rechten Silicon-Valley-Milliardär Peter Thiel für ne halbe Mille im Jahr und macht Charity. Ich brauche ja keine Millionen, ich würde schon für weniger jemandes „Global Strategist“ abgeben und hauptsächlich Galas abhalten. Anyone? Anyone??
Wie diese Stehauf-Männlichkeit funktioniert, ist letztlich ganz einfach. Es braucht erstens ein Netzwerk aus vergleichbar moralisch korrupten oder schon gecancelten Personen, das einen auffängt – und zweitens eine breite Öffentlichkeit, die christlich verzeiht.
Nicht nur ein Problem des rechten Lagers
In wenigen Tagen wählt die CDU sich voraussichtlich einen eigentlich lange aussortierten Typen namens Friedrich Merz zum Chef, der seine homophoben Äußerungen von vor 10 Jahren heute grade mal um das nötige Maß an gesellschaftlichem Höflichkeitskonsens geupdatet hat. Und nein, Stehauf-Männlichkeit ist nicht nur ein Problem des rechten Lagers: Warum fragte sonst noch irgendjemand in der SPD Gerhard Schröder nach seiner Meinung?
Ich bin ein optimistischer Mensch und ich finde, dass sich vieles verbessert hat. Zum Beispiel die Tatsache, dass Reichelt überhaupt bei Springer geflogen ist. Trotzdem gibt es diese Momente, wo ich in meinem eiskalten Kaffeesatz eine schreckliche Zukunft sehe.
Trump wieder in Office, Boris Johnson Chef einer privatisierten BBC, Julian Reichelt und Sebastian Kurz abwechselnd in allen Talkshows – und Boris Palmer Herausgeber einer linksgrünen Debattenzeitschrift. Aber ich muss auch sagen – Sie werden es ahnen –, ich habe gar nicht die „Eier“ für so einen geltungssüchtigen Affentanz. Wenn ich es zu was bringen will, sollte ich besser etwas tun, was weitestgehend unbeobachtet von der Öffentlichkeit stattfindet und wo ich nichts falsch machen kann. Ich glaube, ich werde Lehrer.
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