Regisseur in Russland vor Gericht: Serebrennikow drohen 10 Jahre Haft
Der kremlkritische Regisseur Kirill Serebrennikow steht seit 15 Monaten unter Hausarrest. Bisher gab es einen Prozesstag, es werden viele folgen.
Serebrennikow und vier seiner Mitstreiterinnen wird nun der Prozess gemacht. 15 Monate hat die Prozessvorbereitung gedauert. Mit ihm sind Finanzdirektor Alexei Malobrodski, Sophie Apfelbaum vom Kulturministerium und Theaterdirektor Juri Itin angeklagt. Serebrennikow drohen zehn Jahre Haft, sollte er der Veruntreuung für schuldig befunden werden. Das Eingreifen der Justiz ist bereits ein Urteil. In mehr als 99 Prozent der Verfahren in Russland fällt ein Schuldspruch. Schon der Hausarrest gleicht einer Isolationshaft. Keine Kontakte, kein Telefon, kein Internet, nur ein Spaziergang am Tag ist erlaubt.
Vater Semjon wünscht dem Sohn mit tränenerstickter Stimme „Mut und Kraft, durchzuhalten“. Beim letzten Wort wird er lauter. Er sagt es in einem Film, den eine befreundete Journalistin im Februar in Rostow drehte. Seit sechs Monaten saß der Regisseur bereits im Hausarrest. Lediglich die Besprechungen der Stücke, Filme und Aufführungen, die andere Leute weiterführten, erinnerten an den Starregisseur.
Im August 2017 saß er am Filmset in Sankt Petersburg und wurde verhaftet. Er drehte „Leto“ (Sommer), eine Hommage an den russischen Rocksänger Viktor Zoi in den 1980er Jahren. Das war eine Zeit des Aufbruchs für den jungen Serebrennikow und die Gesellschaft in der Sowjetunion.
Als Jugendlicher kein Revolutionär
Kirill Serebrennikow durfte im Elternhaus nicht weinen. Semjon Serebrennikow hält sich nicht an die eigene Erziehungsmethode. Er ahnt, es könnte mehr auf dem Spiel stehen. Im Februar ist auch Irina, Semjons Ehefrau und Kirills Mutter, gestorben. Kirill durfte wegen des Arrests nicht nach Rostow. Er verabschiedete sich von der Urne, die nach Moskau überführt worden war.
Kirill ist ein stoischer Mensch, er hält an sich. Auch nach der Schule, als er in Rostow Physik studierte und den Wunsch des Vaters erfüllte. „Bis jetzt habe ich gemacht, was ihr wollt, jetzt mach’ ich, was ich möchte“, sagt er am Tag des Examens zu den Eltern und geht zum Theater in Rostow. Dort erhält er bald einen bekannten russischen Fernsehpreis.
Als Jugendlicher war er kein Revolutionär. Sein Ziel hat er aber nie aus den Augen verloren. Kirill Serebrennikow hat einen jüdischen Hintergrund, wie alle anderen Mitangeklagten in dem Prozess. Theaterdirektor Juri Itin, die Theatermanagerin Sophia Apfelbaum und der Finanzchef und Produzent Alexei Malobrodski. Einige russische Zeitungen vermuten einen Zusammenhang. In Russland herrscht jedoch kein staatlicher Antisemitismus. Wladimir Putin verwehrte sich gegen Antisemitismus. Dennoch grassieren antisemitische Vorurteile in der Gesellschaft. Tiefsitzende. Auch solche Fragen kommen auf, wenn Beobachter nach Gründen der Verhaftungen suchen. Nur wenige glauben an den offiziellen Vorwurf der Veruntreuung.
Der ehemalige Kulturminister, Michail Schwidkoi, hält die Anklage wegen Entwendung und Unterschlagung von mehr als 3 Millionen Euro zwischen 2011 und 2014 für ziemlichen Unfug. Dass Sophia Apfelbaum als Abteilungsleiterin im Kulturministerium Gelder bewilligte, die Kollegen am Theater über Scheinfirmen in eigene Taschen steckten, klingt nach russischen Gepflogenheiten nicht völlig aus der Luft gegriffen, aber in diesem Fall doch eher haltlos.
Die Mannschaft um Serebrennikow ist theater- und kunstversessen, sagt Schwidkoi. Kirill sei hoch talentiert und höchst authentisch. Der Ex-Minister will sagen: Mit Geld gehen diese Kreise nicht so sorgfältig um, wie es in Russland eigentlich üblich sein sollte. Denn die gesamte Theaterszene ist vom Staat und dessen Subventionierungen abhängig. Rund siebzig Prozent Förderung sollen es sein.
Talent und die Putin-Jugend
Das bringt die Empfänger leicht in Bedrängnis. Wer den Theaterbetrieb aufrecht erhält, braucht Geld. Auch wenn nur Toilettenpapier beschafft werden muss. Die Gelder stammen vorübergehend aus anderen Töpfen. All das ist zwar gesetzlich geregelt. Gesetze, die sich aber nicht problemlos einhalten lassen, sagt ein erfahrener Manager. Dieses Prinzip wirkt an vielen Stellen zwischen Staat und Bürgern. Sie werden so zu Geiseln gemacht. „Daraus entsteht die Haltung – bloß nicht auffallen.“
Serebrennikow, der Theatermensch, musste jedoch auffallen. Nicht unbedingt wegen des Staates. Spätestens in den Jahren der Interimsherrschaft Präsident Dmitri Medwedjews (2008–2012) stieg er zum Avantgardekünstler des ersten Putin-Jahrzehnts auf. Dmitri Medwedjew beschwor die Modernisierung, suchte nach Innovationen wie dem Wissenschaftshub Skolkowo, das dem Silicon Valley in Kalifornien gleichkommen sollte. Russland sollte moderner werden, Künstler aus aller Welt anlocken. Moskau schlug stadtplanerisch vorübergehend neue Wege ein. Überall hallte es: Innovation, Modernisierung!
Einer der aktivsten Förderer war Putins Berater Wladislaw Surkow. Er war für die Erfindung der Putin-Jugend, „Naschi“, die Unseren, zuständig, und entwarf das Konzept der „souveränen Demokratie“ für Russland. Er war ein Designer, der das verkrustete Reich in eine hippe Hülle stecken wollte. Und er war kein Einfaltspinsel, im Unterschied zu vielen Vertrauten um den Kremlchef wusste er, was er machte.
Surkow war Autodidakt, Schöngeist und sprühender Kopf, der alles las und zusammenrührte. Er hatte schon einen Roman, „okolo nullja“, verfasst, der sich den ersten Jahren der Putin-Zeit widmete. Unter Pseudonym allerdings. Vor allem war er ein prinzipienloser Machtmensch. Der Zynismus der Hauptfigur des Romans gerann unter Serebrennikows Inszenierung zu Selbstzweifel und Ekel. Surkow hatte ihn gebeten, die Aufführung zu übernehmen. Serebrennikow passte zur Vision Medwedjews, der ein kulturell offeneres und experimentierendes Russland schaffen wollte. Wladislaw Surkow und die Stadt Moskau brachten den Entwurf auf die Bühne. Die Zuschauer aus den Zirkeln der Macht verließen das Ensemble, sobald sie sich selbst erkannten.
Der Wind hat sich gedreht
Serebrennikow wurde zum Chef des Gogol-Theaters ernannt. Eine traurige Bühne, die die Hälfte des Zuschauerraums verbarrikadierte, weil kaum noch Zuschauer kamen. Der neue Direktor entließ die alte Mannschaft. Parallel entstand die „Platforma“, die alle Genres im Theater zusammenführte: Musik, Tanz, Sprechbühne, Medien sowie endlose Lektionen und Diskussionen bot das neue Gogol-Zentrum. Das frühere Ensemble protestierte, demonstrierte und suchte Gleichgesinnte. Hatte der neue Direktor überhaupt ein Diplom? Natürlich nicht! Für diese Kritiker gehörte er zu den Zerstörern der russischen Theatertradition.
Drei Jahre hielt sich die „Platforma“. 2014 war endgültig Schluss. Auch der Wind hatte sich draußen gedreht. Nach der turbulenten Reinthronisierung Wladimir Putins 2012 als Präsident war nicht mehr von Innovation die Rede. Tradition avancierte zum Schlagwort, vertreten durch Kirche, Armee und Familie. Zusammengestaut in einem aggressiven Nationalismus, der Kleinkinder in Uniformen zwängt.
Nach Krimbesetzung und Einmarsch im Donbass geriet das modernisierungsbereite Russland ins Hintertreffen. Auch Surkow verlor das Interesse. Er wurde von Wladimir Putin als Sonderbeauftragter in die besetzten Gebiete geschickt. Ultrakonservative wie der Kulturminister Wladimir Medinski und der orthodoxe Bischof Tichon, angeblich Beichtvater Putins, kümmern sich seither um Russlands Zukunft.
Marina Dawydowa ist Russlands bekannteste Theaterkritikerin. Sie will Serebrennikow noch gewarnt haben, der Macht nicht so nahe zu kommen. „Wir sind nicht so eng miteinander“, soll er abgewunken haben. Die Zeit der Öffnung werde nicht lange anhalten. Auch nach der Revolution in den 1920er Jahren blühte die Avantgarde nur kurz auf, so Dawydowa. Dann wurde Stalin Regisseur. Kirill hätte die Warnung seines Vaters Semjon Serebrennikow wahrscheinlich in den Wind geschlagen.
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