Regierungsumbildung in Frankreich: Herr der Lockerungen wird Premier
Jean Castex plante als „Monsieur Déconfinement“ den Ausstieg aus den Corona-Maßnahmen. Macron hat ihn nun zum Regierungschef ernannt.
Die stark kritisierte Coronapolitik und die desaströsen Ergebnisse der Kommunalwahlen für die Regierungspartei hatten den französischen Staatschef Emmanuel Macron in Zugzwang gebracht. Mit dem Rücktritt der Regierung hat er freie Hand für seine geplante Kursänderung mit einem neuen Team bekommen. Nun soll Jean Castex ein neues Ministerkabinett bilden.
Dieser Funktionär aus dem französischen Südwesten war nicht unbedingt die attraktivste Figur im Casting des Präsidenten, mit Sicherheit aber eine weniger markante Persönlichkeit als der scheidende Premier. In ersten Kommentaren wird Macrons Auswahl auch damit erklärt, dass der Präsident anstelle eines Regierungschefs mit eigenen Meinungen eher einen „ersten Minister“ wolle, der ihn selber nicht in den Schatten stelle.
Mit seiner Heimkehr nach Le Havre könnte aber der sehr populäre Philippe für Macron noch zu einem gefährlichen Rivalen werden. Der bisherige Premier hatte in seiner Heimatstadt Le Havre als einer der wenigen unter den Kandidaten aus dem Regierungslager bei den Kommunalwahlen mit einer klaren Mehrheit (59 Prozent) das Rathaus erobert. Damit hatte er bewiesen, wie beliebt und politisch legitim er zumindest aus der Sicht seiner lokalen Wählerschaft ist. Der Wahlsieg wäre aus dieser Perspektive sicher kein Grund gewesen, als Regierungschef zurückzutreten. Doch Präsident Emmanuel Macron musste nach der landesweiten Wahlniederlage von „La République en marche“ ein Zeichen setzen. Deshalb die Regierungsumbildung.
Genug Vorschusslorbeeren?
Seine eher überraschende Wahl für diese Aufgabe fiel nun auf Castex, der in Frankreich für die Planung des „Déconfinement“, das heißt die Beendigung der coronabedingten Ausgangsbeschränkungen, zuständig war. Sind das genug Vorschusslorbeeren für den Start als Regierungschef? Der 55-Jährige ist bislang Bürgermeister der Kleinstadt Prades in den Pyrenäen und Ex-Mitglied der Regionalbehörden, er war ein eher diskreter Berater des früheren Staatschefs Nicolas Sarkozy (2007–2012) und während dessen Präsidentschaft enger Mitarbeiter von Sozial- und Gesundheitsminister Xavier Bertrand. Politisch gehört er zur Familie der Konservativen, die von der Partei „Les Républicains“ (LR) repräsentiert wird, zum Teil aber auch in Macrons „La République en marche“ vertreten ist.
Wer eine national oder gar international bekannte und politisch starke Persönlichkeit erwartet hatte, dürfte nun enttäuscht sein. Die Öffentlichkeit rechnete nach dem Vormarsch der Grünen und Linken bei den Kommunalwahlen mit einer entsprechend angepassten politischen Orientierung in den knapp zwei Jahren der restlichen Amtszeit des Präsidenten. Politologen prophezeien, dass Ökologie und insbesondere die Klimapolitik in Frankreichs Politik künftig viel stärker im Zentrum stehen sollen. Sozial einschneidende liberale Reformen dagegen müssten demnach eher warten.
Das ist nicht unbedingt die Politik, für die Edouard Philippe einstehen wollte, der wie mehrere Minister der bisherigen Regierung 2017 von LR zu Macron überwechselte. Ob sie nun eher von Castex verkörpert wird, ist eine andere Frage.
Philippes Rücktritt war offenbar länger schon abgesprochen. Die französische Zeitung Le Figaro berichtete, die beiden hätten sich in „gutem Einvernehmen“ getrennt. Schon im Verlauf des Vormittags wurden vor dem Matignon-Regierungssitz Kartons ausgeladen, damit der scheidende Premierminister seine Sachen für eine Heimkehr nach Le Havre packen konnte. Macron dankte ihm für seine „bemerkenswerte Arbeit“ in den letzten drei Jahren.
Noch vor wenigen Wochen versicherten Mitarbeiter des Präsidenten auf kritische Nachfragen von Journalisten, Präsident und Premier stünden sich so nahe, dass man nicht einmal „ein Zigarettenpapier“ zwischen sie schieben könnte. In Wirklichkeit war der „Pas de deux“ in der Staatsführung längst nicht immer so harmonisch.
Macron und Philippe waren bei einigen Themen nicht auf derselben Wellenlänge – vor allem bezüglich des Pensionsierungsalters in der umstrittenen Rentenreform, die schließlich auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Aber auch in der Steuerpolitik und bei der Reaktion auf die Forderungen der Gilets jaunes waren die beiden unterschiedlicher Meinung.
Besonders aber hatte Philippe verärgert, dass Macron mehrfach seinen Fachministern einen Kurswechsel diktierte, ohne den Premier zu fragen – oder auch nur vorher zu informieren. So hatte Philippe beispielsweise zur Unfallverhütung eine Temporeduktion auf Landstraßen auf 80 Stundenkilometer beschlossen. Angesichts von Protesten und Kritik intervenierte Macron, um es den Lokalbehörden der Departements zu ermöglichen, auf ihren Straßen die Höchstgeschwindigkeit wieder auf 90 km/h festzulegen. Das war ein Affront für Philippe, der davon indes öffentlich nicht viel Aufhebens machte.
Was hingegen den Präsidenten in letzter Zeit wurmte, war die wachsende Popularität seines Premierministers, der im Unterschied zu ihm selbst in den Umfragen von der Hälfte der Landsleute geschätzt wurde. In der französischen „Wahl-Monarchie“ aber kann es nur einen König geben. Die französischen Medien ließen es sich natürlich nicht nehmen, von Macrons Eifersucht auf Philippes Popularität zu reden.
Ohnmächtig musste der Staatschef nämlich zuschauen, wie sein Erster Minister langsam zu einem potenziellen Rivalen für die Präsidentschaftswahlen avancierte. Genau aus demselben Grund aber hätte Macron allen Anlass gehabt, Philippe als Regierungschef unter seiner Kontrolle zu behalten und ihn in die Verantwortung für die Politik bis 2022 einzubeziehen, statt ihm freie Hand zu geben.
Vertrauen in Macron ist eingeschmolzen
Erst die Zusammensetzung der neuen französischen Regierung, die spätestens vor dem nächsten Ministerrat am 8. Juli feststehen muss, wird wirklich Aufschluss über die „neue“ politische Strategie von Emmanuel Macron geben. Die Zeit für die Verwirklichung seines ursprünglichen Wahlprogramms wird indes knapp. Sein Vertrauensvorschuss bei der Bevölkerung ist arg geschmolzen nach Krisen wie den Demonstrationen der Gilets jaunes, dem Widerstand gegen die Rentenreform sowie der Kritik an mangelhaften Präventionsmaßnahmen während der Coronapandemie und der Unterstützung des Gesundheitssektors.
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Macron braucht dringend neue Gesichter, die Zuversicht ausstrahlen. Er selber zeigt sich indes nicht sonderlich optimistisch: In einem Interview mit Regionalzeitungen hat er am Donnerstagabend seine Landsleute bereits gewarnt: Die „Rentrée“ im Herbst, also die Rückkehr zu Arbeit und Schule nach den Sommerferien, werde aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Krise „hart“ werden.
In den ersten Reaktionen auf die Nominierung von Jean Castex spotten vor allem diverse VertreterInnen der politischen Linken. „Alles ändert sich, damit sich nichts ändert! Ein Mann der Rechten ersetzt einen Mann der Rechten, um dieselbe antisoziale und anti-ökologische Politik fortzuführen“, kommentierte beispielsweise die EU-Abgeordnete von „La France insoumise“, Manon Aubry. Julien Bayou, Sekretär der Grünen (EELV), äußerte sich auf Twitter ähnlich: „Nach einem Pseudo-Suspense folgt ein Rechter auf einen Rechten, und von Ökologie ist nicht die Rede. Der Präsident will allein sichtbar sein, und anstatt das Land auf die Zukunft vorzubereiten, bereitet er seine Kandidatur (für eine Wiederwahl) vor.“
Der Vorsitzende der Region Hauts de France in Nordfrankreich, Xavier Bertrand, beglückwünschte dagegen seinen ehemaligen ministeriellen Mitarbeiter Castex zu seiner Nominierung – mit einem Seitenhieb auf Macron: „Ich kenne und schätze die Qualitäten von Jean Castex als Staatsdiener. Sie werden in den schwierigen Zeiten, die auf uns zukommen, unverzichtbar sein … und es ermöglichen, die schlechten Entscheidungen des Präsidenten der Republik zu korrigieren.“
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