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Regierungskrise in WienAtempause für Österreich

Florian Bayer
Kommentar von Florian Bayer

Nach dem Platzen der Koalitionsverhandlungen bleibt Österreich vorerst eine Rechtsregierung wie in Ungarn erspart. Für eine Entwarnung ist es trotzdem zu früh.

FPÖ-Chef Herbert Kickl (Rechts) und Generalsekretär Michale Schnedlitz am Montag am noch leeren Verhandlungstisch Foto: Georges Schneider/imago

V ordergründig ist es ein Grund zur Erleichterung: Die Verhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP sind krachend gescheitert. FPÖ-Chef Herbert Kickl hat den Regierungsbildungsauftrag beim Bundespräsidenten zurückgelegt. Damit bleibt Österreich ein Kippen Richtung Orbán-Ungarn zumindest vorläufig erspart. Wer Zweifel zu den FPÖ-Plänen hat, dem sei ein Blick ins geleakte Papier zum Stand der Verhandlungen empfohlen: Ein totaler Asylstopp mit Pushbacks an den Grenzen.

Ein Zerstören des ORF, das Aushungern von Zeitungen, stattdessen die Förderung von „Alternativmedien“. Ein Aufschieben aller Klimaziele. Die Evaluierung aller internationalen Abkommen. Ein Ende der Russlandsanktionen sowie aller Ukrainehilfen. Erwerb der Staatsbürgerschaft erst nach 30 Jahren. Doch auch jetzt ist nicht alles gut, denn Österreich ist weiter von einer handlungsfähigen Regierung entfernt denn je. ÖVP und SPÖ brachten keine Einigung zustande.

Zu groß schien der nötige Kompromiss, zu groß waren die eigenen Egos und auch die Reformunfähigkeit der früheren Großparteien. Was bisher fehlte, ist ein Hinterfragen in den Reihen von ÖVP und SPÖ, warum die FPÖ überhaupt so groß geworden ist. Auch wenn die ÖVP sich jetzt herauszureden versucht: Sie ist es, die im Nacheifern der FPÖ den Diskurs nachhaltig nach rechts verschoben hat.

Sie ist es, die Reformen in so wichtigen Bereichen wie Sozialpolitik, Gesundheit, Renten und Bildung jahrzehntelang verhindert oder zumindest verschleppt hat. Denn die ÖVP regiert seit 1987 durchgehend – als Juniorpartner oder als Kanzlerpartei. Doch auch die SPÖ unter ihrem dezidiert linken Kurs von Andreas Babler schaffte es nicht, dazuzugewinnen. Wegen Streitereien im Inneren, wegen fehlender Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft, wegen der Abgehobenheit in Teilen ihrer Führungszirkel.

Wenn die einstigen Großparteien retten wollen, was zu retten ist, braucht es vor allem Aufrichtigkeit und den Willen, Dinge anders zu denken. Jahrzehntelang hatten ÖVP und SPÖ Österreich vor allem verwaltet, aber kaum noch gestaltet. Wie soll dieses Land in der Mitte Europas in Zukunft aussehen? Das ist die Frage, auf die die früheren Großparteien eine Antwort finden müssen. Und zwar schnell, denn die FPÖ strickt bereits an ihrer Ausgrenzungserzählung weiter und geht wohl noch gestärkt aus dem Fiasko hervor.

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