Regierung setzt Bürgermeister ab: „Entwürdigend und rechtswidrig“
Panzerfahrzeuge vor dem Rathaus: Der Bürgermeister von Diyarbakır über seine Amtsenthebung.
Selçuk Mızraklı (HDP) wurde am 31. März zum Bürgermeister der Großstadt Diyarbakır gewählt. Heute Morgen hat die Zentralregierung ihn durch den Gouverneur ersetzt.
taz: Herr Mızraklı, Sie wurden Ihres Amtes enthoben. Was ist passiert?
Selçuk Mızraklı: In der Nacht zirkulierten bereits Meldungen in der Presse und in den sozialen Medien. Entsprechend waren wir die ganze Nacht wach und sahen, dass ab 4.30 Uhr das Rathaus von Diyarbakır mit Panzerfahrzeugen umstellt wurde. Gegen 6 Uhr erfuhren wir, dass Sicherheitskräfte eindrangen. Ich war um zwanzig vor sieben dort und wurde nicht ins Rathaus gelassen. Mir wurde gesagt, dass mir ein Schreiben zugestellt werde, dass ich meines Amtes enthoben sei.
Wer hat Ihnen das zugestellt?
Später nahm mich der Vize-Gouverneur der Provinz Diyarbakır dann ins Rathaus mit, wo mir das Schreiben zugestellt wurde. Ich gab zu Protokoll, dass das dem Willen der Wählerinnen und Wähler zuwiderläuft, verfassungswidrig und demokratiefeindlich ist. Ich sagte, es sei entwürdigend, das Schreiben entgegenzunehmen und verweigerte meine Unterschrift.
Konnte das Personal ins Gebäude?
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden nicht reingelassen, auch später nicht. Es hieß, der Gouverneur der Provinz Diyarbakır sei als kommissarischer Verwalter eingesetzt worden. Damit ist der heutige Tag zu einem Meilenstein für die politische und rechtliche Entwicklung der Türkei geworden. Die Gesellschaft hatte gerade begonnen, wieder Vertrauen in die Möglichkeit demokratischen Wandels aufzubauen.
Gab es Demonstrationen?
ist Mitglied der Parents for Future Bewegung in Dresden.
An vielen Orten der Stadt gab es spontane Proteste. Leider ist die Polizei auf unrechtmäßige und gewaltsame Weise dagegen vorgegangen. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wurde außer Kraft gesetzt. Man sieht auch auf Videos, dass sowohl unsere Abgeordneten als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der HDP massiv angegangen wurden. Gleichzeitig wurden mehrere hundert Menschen in Diyarbakır festgenommen.
Wer sind diese Menschen?
Unter anderem HDP-Mitglieder, darunter Abgeordnete des Stadtrates. Hier wird nicht nur der Wille der Wählerinnen und Wähler unterdrückt, sondern sämtliche errungenen demokratischen Standards werden achtlos entsorgt. Hier müssen Zivilgesellschaft und Medien zeigen, dass sie noch Werte wie Rechtsstaatlichkeit verteidigen. Es geht nicht nur um die HDP, sondern um das demokratische System.
Haben Sie einen Aktionsplan?
Wir werden unseren Widerspruch vor allem auf zivilgesellschaftlicher Ebene äußern. Wir denken an Formen des zivilen Ungehorsams. Dazu wird sich der Parteivorstand der HDP äußern. Es wäre entwürdigend, sich diesem Raubüberfall auf unseren politischen Willen einfach zu beugen.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!