: Regenbogen über London
■ Die jüngere Geschichte der Metropole wird von ethnischen Minderheiten bestimmt
Indische Gastarbeiter bauten den Flughafen von Heathrow. Karibische Einwanderer gestalten jeden Sommer den Notting Hill Carneval, das größte britische Touristenspektakel. Islamistische Exilanten aus dem arabischen Raum haben die britische Hauptstadt zu einem ihrer wichtigsten politischen Zentrum in Europa erkoren. Londons ethnische Minderheiten bestimmen die jüngere Geschichte der Stadt. Von den sieben Millionen Einwohnern des Großraums London stammen etwa 600.000 aus der Karibik und Afrika, nochmal dieselbe Anzahl aus Indien und Pakistan. Dazu kommen unzählige andere Minderheiten: 100.000 Zyprioten, 50.000 Araber, 50.000 Polen. Nahezu jedes Land der Welt ist in London vertreten. Aber aggressive und gewaltsame Selbstbehauptung ist nicht die Sache Londoner Einwanderergemeinschaften. Das liegt einmal an der Unklarheit der Zuordnung: Immigranten sind nicht gleich Ausländer. Die aus dem ehemaligen Empire sind entweder Briten oder genießen weitestgehende rechtliche Gleichstellung bis hin zum Wahlrecht. Bei statistischen Erhebungen wird in Großbritannien nicht nach Staatsbürgerschaft gefragt, sondern nach subjektiver rassischer Zugehörigkeit.
Auch ethnische Ghettos gibt es in London eigentlich keine. Es gibt verschiedene Stadtviertel mit verschiedenen Merkmalen der Besiedlung durch Immigranten. Und es gibt natürlich soziale Ghettos aus trostlosen Hochhaussiedlungen, deren Bewohner ganz unabhängig von ethnischer Herkunft sozial ausgegrenzt sind. Nicht einmal die große Moschee im Regent's Park oder der gigantischen Hindu- Tempel von Neasden erwecken den Eindruck, hier wende sich eine fremde Kultur ab vom Rest der Stadt. Im Gegenteil.
Während die kulturelle Vielfalt Londons auch das kulturelle Leben der Stadt prägt, versuchen die Ethnien Londons in der Regel nicht, sich mit eigenen politischen Organisationen zu Wort zu melden. Denn die öffentlichen Institutionen sind farbenblind, die ungezügelte Londoner Marktwirtschaft sowieso. Niemand sorgt sich um das ethnische Gleichgewicht sogenannter Problemviertel wie in den USA. Politische Spaltungen entlang ethnischer oder religiöser Linien sind daher in London so gut wie unbekannt.
Vor allem seit dem Verblassen traditioneller englischer Selbstverständlichkeiten strahlt London keine dominante Kultur mehr aus, die Anpassung oder Auflehnung herausfordert. Londons Ausstrahlung ist die einer internationalen Zivilisation von Geruhsamkeit und Geschäftssinn, von vielen anglophonen Gemeinschaften der Welt geschätzt und regenbogenhaft gebrochen durch die kulturelle Vielfalt ihrer Genießer. Dominic Johnson, London
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen