Reformprozess in Kuba: Wo fast alle das Gleiche unternehmen
Seit Kurzem ist Selbstständigkeit in Kuba erlaubt. Das gilt nicht für alle Berufe. Daher boomen zurzeit CD-Läden und Schönheitssalons. Raúl Castro mahnt zur Geduld.
HAVANNA taz | Jeden Morgen baut Bayron Cepeda seinen Verkaufsstand in der Avenida Salvador Allende im Stadtzentrum von Havanna auf. Drei Stellwände mit unzähligen bunten Covern raubkopierter CDs und DVDs. „Das ist alles, was ich im Moment habe“, sagt der Straßenverkäufer. „Wünsche erfülle ich in ein bis zwei Tagen.“
Abends ist Cepeda oft noch unterwegs, um nach neuen Spielfilmen und Musikalben Ausschau zu halten. „Vor allem bei Freunden und Bekannten. Manchmal kaufe ich auch bei der Konkurrenz“, sagt der 34-Jährige im geringelten Poloshirt, das ein Krokodil ziert. Stets das Neueste am Start haben ist seine Devise.
Bayron gehört zu den etablierten Verkäufern, die nicht mehr durch die Straßen laufen, mal hier oder mal da ihre Decke ausbreiten. „Ich bin seit 14 Monaten selbstständig“, erklärt er stolz. Seine Selbstständigkeit hat ihren Preis. „Jeden Montag muss ich 30 Pesos convertibles [etwa 22 Euro] als Steuer zahlen, egal wie die Geschäfte laufen“, berichtet der kräftige junge Mann.
Der Peso convertible, auch CUC genannt, hat den Dollar als zweite Währung im Land – neben dem Peso Cubano – abgelöst. Seine schwarzgebrannten CDs und DVDs lässt sich Cepeda in CUC bezahlen. 2 oder 3 CUC kosten die billigsten Produkte, 5 die teureren. Vom Verkauf kann Bayron leidlich leben. „Es ist kein sicheres Geschäft“, erklärt er. „Musik und Filme kaufen die Leute erst, nachdem sie Gemüse, Fleisch und Reis gekauft haben. Auf mein Angebot können sie verzichten, aufs Essen nicht.“
Bayron Cepeda ist nicht der einzige private Anbieter in der Straße, die nur ein paar Ecken von der Universität und dem Platz der Revolution entfernt ist. Hier halten mehrere Buslinien, der Verkehr fließt vierspurig, und ein paar Straßenkreuzungen weiter befindet sich ein großer Devisensupermarkt der Regierung. Das lockt die Kunden an, und so säumen die Straße gleich ein gutes Dutzend kleiner selbstständiger Anbieter.
Erweitertes Angebot
Zwei oder drei Cafeterías haben sich unter einem Säulengang eingerichtet, genauso ein Schuster, ein improvisierter Schönheitssalon und ein Hersteller von Piñatas – das sind große Puppen aus Pappmaschee, die zum Kindergeburtstag mit Süßigkeiten gefüllt und dann zerschlagen werden. Aber auch ein Eisverkäufer, ein Uhrenmacher und zwei weitere CD-Verkäufer haben sich in diesem Abschnitt der Avenida Salvador Allende niedergelassen und erweitern das Angebot merklich.
„Die Reformen bewirken, dass die Leute wieder etwas probieren, und das kommt allen zugute, weil das Angebot wächst“, erklärt Oscar Almiñaque. Almiñaque ist ein Raúlista. So werden in Kuba die Anhänger von Präsident Raúl Castro genannt. „Raúl versteht etwas von der Wirtschaft, und ich habe schon immer gesagt, dass er die Leute machen lassen wird.“ Der 50-Jährige mit dem graumelierten Schnauzer, von Haus aus Ökonom, betreibt eine private Zimmervermietung in der alten Gründerzeitvilla, die seiner Familie gehört. Ein Glücksumstand. Denn für einen Ökonomen marxistischer Prägung wie ihn beziehungsweise überhaupt für Akademiker ist es alles andere als einfach, in Kuba einen Job zu ergattern. Für qualifizierte Berufe bietet die im September 2010 erfolge Freigabe von 178 Berufen für die selbstständige Tätigkeit kaum Optionen. Auch Mediziner, Anwälte oder Lehrer dürfen sich nicht frei niederlassen.
Reformdefizite
Das kritisieren auch kubanische Ökonomen wie Pavel Vidal oder Omar Everleny Pérez von der Universität Havanna, die in einer Analyse für die Kirchenzeitung Espacio Laical eine Ausweitung der Liste auf andere Berufe forderten. Mit dieser Kritik stehen sie nicht allein, denn so gut die Reform auch bei den Kubanern ankommt, 16 Monate nach der Verabschiedung sind die Defizite nicht zu übersehen.
„Damals wurde angekündigt, dass Großmärkte eingerichtet werden sollen, wo sich die Selbstständigen und Kleinunternehmer mit Produktionsmaterialien versorgen können“, erklärt ein Klempner, der gegenüber der Polizeiwache in der Avenida Salvador Allende sein Werkzeug aufgebaut hat. Auf einem Tisch liegen ordentlich drapiert neue und gebrauchte Rohre, Wasserhähne und Dichtungsringe. „Bis heute muss ich mein Arbeitsmaterial oft ‚links herum‘ besorgen“, sagt er. „Links herum“ ist in Kuba ein Synonym für den illegalen Weg, und auf den sind viele der mittlerweile rund 350.000 Selbstständigen in Kuba angewiesen.
Mehr als 200.000 Menschen haben seit September 2010 eine Lizenz für die Freiberuflichkeit beantragt. Die restlichen 150.000 arbeiteten schon vorher auf eigene Rechnung, wie es in Kuba heißt. Aus Perspektive der Regierung ist die Reform ein voller Erfolg, denn die „Trabajadores por Cuenta Propia“, wie sie offiziell heißen, bringen Geld ins Steuersäckel, in die klammen Pensionskassen und sorgen für eine Erweiterung des Angebots.
Kredite für Kleinunternehmer und Privatbauern
Das beschert der Regierung finanziellen Spielraum, sodass seit November 2011 auch Kredite für Kleinunternehmer und Privatbauern angeboten werden – etwas Neues in Kuba, wo das Bankensystem bisher kaum Erfahrungen mit der Kreditvergabe an kleine Unternehmen hat. Pavel Vidal, Bankenexperte am Studienzentrum der kubanischen Wirtschaft (CEEC), wünscht sich diesbezüglich mehr Beratung und Kooperation mit internationalen Banken. Aus Brasilien, aber auch aus der EU gab es Kredit- und Kooperationsangebote.
CEEC-Direktor Omar Everleny Pérez dagegen hält es für richtig, dass „die Regierung mit den eigenen Mitteln auskommen will“. Er mahnt zur Geduld mit dem Reformprozess. „Es passiert doch kontinuierlich etwas. Die Ausgabe von subventionierten Baumaterialien an Bedürftige ist so eine Maßnahme, der Verkauf von Mehl und Speiseöl zu Großhandelspreisen eine weitere“, betont der 51-jährige Ökonom.
Geduld hat auch Staatschef Raúl Castro in den letzten Monaten immer wieder angemahnt. Er erwies sich auf dem Parteitag im letzten April, vor dem Parlament im Dezember und zuletzt auf der Parteikonferenz Ende Januar eher als Bremser denn als Förderer des bis 2015 geplanten Reformprozesses. „Schließlich kann man nicht in 16 Monaten eine Geschichte von 53 Jahren ändern“, betont der Wirtschaftswissenschaftler Pérez. Doch Pérez weiß auch, dass die Dynamik und Euphorie, die mit den Reformen einhergehen, umschlagen können in Frustration und Wut. „Die Konkurrenz unter den Privaten ist immens, besonders bei den CD-Verkäufern, den Vermietern und den Paladares.“
„Es wird nur konsumiert“
Paladares heißen die kleinen privaten Restaurants, die in den letzten Monaten zahlreich eröffnet wurden. Gleiches gilt für die Schilder mit dem umgedrehten blauen Anker, die in Havanna an vielen Haustüren zu sehen sind – dort gibt es Zimmer für Touristen. Dass fast alle das Gleiche machen, ist für Leonardo Padura, Kubas bekanntestem Schriftsteller, nicht das einzige Problem. „Es wird kaum etwas produziert, nur konsumiert“, erklärt der bärtige Mann, der im Arbeiterviertel Mantilla lebt und das Treiben auf der Straße tagtäglich beobachtet. „Kleinunternehmen, die etwas produzieren, sind kaum gegründet worden“, moniert der 56-jährige Journalist und Romancier.
Die größten Hoffnungen setzen die Wirtschaftsexperten im CEEC dabei auf das genossenschaftliche Modell. Kleine Betriebe zur Herstellung von Möbeln, Matratzen, aber auch Taxikollektive oder Autowerkstätten bieten neue Perspektiven. Aber die gesetzlichen Vorgaben, die bereits im September 2010 angekündigt wurden, sind fast sechzehn Monate später immer noch nicht fertig. Dabei gibt es in Havanna bereits Taxikollektive, die unter der Hand funktionieren und auch eigene Reperaturwerkstätten aufgebaut haben.
Unproduktive Wirtschaft
„Illegal, aber durchaus real“, so einer der beteiligten Taxifahrer mit breitem Grinsen. Für die so unproduktive Wirtschaft der Insel könnte das genossenschaftliche Modell zur produktiven Alternative im Handwerks- und Dienstleistungssektor werden. Bei den Frisören wurde es auf Weisung von oben vor drei Jahren testweise geprüft – erfolgreich.
Für das zögerliche Handeln ihrer Regierung haben nicht alle Kubaner Verständnis. Zu ihnen zählt auch Bayron Cepeda. Bisher muss er seine Materialien zum gleichen Preis kaufen wie jeder Kubaner. Er wünscht sich beispielsweise einen Profirabatt beim Kauf von CD-Rohlingen oder Papier im Devisensupermarkt. „Unter Vorlage der Steuernummer natürlich.“ Er ist ja selbstständig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen