: Reclaim the Moderne
Immer mehr Künstler zieht es in die Räume der Nachkriegsmoderne. Dabei vollzieht sich ein ähnlicher Prozess wie in den Achtzigerjahren, als die Gründerzeitstadt wieder entdeckt wurde. Damals wie heute galt das Neuentdeckte als abrissreif
von FRANK ROOST
Unbedarften Touristen werden Oranienburger Straße und Hackesche Höfe nach wie vor als angebliches Szene-Berlin präsentiert. Doch kulturelle Veranstaltungen, die keine kommerziellen Events sind, zieht es fort vom Edelambiente des Bezirks Mitte. Junge Künstler nutzen für ihre Aktionen stattdessen immer öfter Gebäude aus den Sechzigerjahren wie die leer stehenden Pavillons an der Karl-Marx-Allee.
Ebenso finden sich neuere Clubs in DDR-Gebäuden, wie „Sternradio“ im einstigen Haus des Reisens oder „Maria am Ostbahnhof“. Aber auch für politische Aktionen werden solche Bauten genutzt. Als 1998 mit der InnenStadtAktionswoche gegen die Privatisierung des öffentlichen Raums protestiert wurde, diente ein leer stehendes Geschäft in der aus DDR-Zeiten stammenden Markthalle am Alexanderplatz als zentraler Veranstaltungsort. Während Berlins Altachtundsechziger-Planerelite die aus der Nachkriegszeit stammenden Bereiche des Zentrums mit Hilfe des „Planwerk Innenstadt“ zugunsten eines traditionellen Stadtgrundrisses umgestalten und zum Teil abreißen möchte, erschließt sich eine jüngere Generation von Kreativen, Clubbesuchern und politisch Aktiven neue Wege zur Nutzung des baulichen Erbes der Moderne.
Doch dieser Wandel ist mehr als nur ein Generationenstreit über architektonische Qualitäten. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess der Aneignung kulturell entwerteter Stadtschichten durch diejenigen, die nicht zu den Adressaten der offiziellen Politik gehören – eine Entwicklung mit auffallenden Analogien zur Wiederentdeckung der traditionellen Stadt vor 30 Jahren.
Die in der Bundesrepublik in den Siebzigerjahren eingeleitete behutsame Stadterneuerung war mehr als ein Wandel des städtebaulichen Leitbilds. Vor allem war es eine Abkehr von der Standardisierungsmaschinerie der Nachkriegszeit, gegen die jene aufbegehrten, die von dieser Entwicklung nicht profitierten. Große Teile der Bevölkerung strebten damals die durch die Planungspraxis vorangetriebene Lebensweise mit Auto, Einbauküche und Wohnung im Grünen an. Auch die innerstädtischen Gebiete sollten entsprechend umgestaltet werden. Nicht berücksichtigt blieben Migranten, denen nur ein vorübergehender Aufenthalt zugebilligt wurde, sowie diejenigen, die nicht willens oder in der Lage waren, den vorgesehenen Weg mit Arbeit und Familie zu gehen.
Die jungen Menschen, denen das Leben in einer sozial und kulturell homogenen Vorstadt nicht erstrebenswert erschien, eigneten sich deshalb nach und nach die Wohngebiete des 19. Jahrhunderts an, die mit ihren niedrigen Mieten und dem teilweisen Leerstand eine Art Vakuum darstellten. In einem noch kurz zuvor unvorhergesehenen Prozess wurden Bauten, die für gänzlich andere Nutzungen errichtet worden waren, für alternative Lebensformen adaptiert. Einst für großbürgerlichen Lebensstil zugeschnittene Altbauappartements wurden zu Fünfer-WGs, Hinterhauswohnungen zu Single-Unterkünften und selbst die für rigide organisierte Produktionsabläufe gebauten Industriehallen dienten plötzlich als Orte für Kunst und Kultur.
Das Schema der 50- und 60-Jahre, als Neubauwohnungen mit Nierentisch noch Zeichen für zeitgemäßen Lebensstil und Parkettbodenwohnungen mit Stuckdecke Sinnbild von Spießigkeit waren, verkehrte sich so ins Gegenteil. Diese vor etwa 25 Jahren geprägte kulturelle Kodierung von „Altbau = junger urbaner Lebensstil“ und „Neubau = solider vorstädtischer Lebensstil“ hat sich im Grundsatz bis heute gehalten, dabei aber auf der ökonomischen Ebene im Laufe der Zeit einen wesentlichen Wandel erfahren.
In den Siebzigerjahren galt die Altbauwohnung noch als ein Symbol einer alternativen, weniger materiell orientierten Lebensweise, der Neubau als Zeichen wirtschaftlichen Erfolgs. In dem Maße aber, in dem in der postindustriellen Gesellschaft die Yuppies zu Wohlstand gekommen sind, Arbeiter dagegen ihre Jobs verloren, hat sich auch das Image der Stadtteile verändert. Während viele traditionelle Wohngegenden als hip gelten und unter Aufwertungsdruck stehen, werden Neubauviertel als Kulturwüsten des sozialen Wohnungsbaus stigmatisiert.
Die Reaktion der offiziellen Stadtpolitik verschärft dieses Problem auf fatale Weise und wiederholt dabei Fehler der Sanierungsstrategie der Nachkriegsjahrzehnte. Denn die postmoderne Konsumgesellschaft bietet zwar eine größere Bandbreite an Lebensstilen als die spießig-autoritäre frühe Bundesrepublik, doch der Zwang zur Anpassung an die vorherrschende Ökonomie ist kaum geringer geworden. Heute genau wie damals ignoriert die Stadtpolitik diejenigen, die nicht am Umstrukturierungsprozess gewinnen können oder wollen.
Dies betrifft vor allem die Verlierer der sozialen Polarisierung. Weil sie nicht am allgemeinen Konsumrausch teilhaben können, bringt ihnen die neue Lifestyle-orientierte Urbanität auch keine Verbesserung der Lebensqualität. Hinzu kommen diejenigen, die trotz guter Bildungschancen nicht zu den sich selbst ausbeutenden freien Mitarbeitern der Kreativbranchen, Jungunternehmern oder EDV-Spezialisten gehören wollen. Stattdessen erkennen sie ihre Mitverantwortung und nehmen es nicht hin, wenn die Verlierer des ökonomischen Wandels ausgegrenzt werden. Im Rahmen von Aktionen wie „Reclaim the Streets“ protestieren sie gegen Privatisierung, Kommerzialisierung und Sicherheitswahn.
In einem ähnlichen Geist werden mittlerweile zahlreiche DDR-Gebäude für kulturelle Zwecke verwendet. Was mit dem Tränenpalast einmal begonnen hat, findet in den Rathauspassagen am Alexanderplatz, in denen kürzlich das „Interzone-Festival“ stattfand, dem Haus des Lehrers oder dem Café Moskau, für das gerade neue Nutzungskonzepte erabeitet werden, seine Fortsetzung. Da in den Altbauvierteln immer weniger Platz für Subkultur bleibt, weil wohlhabend gewordene Alternative, Architekturbüros oder Werbeagenturen die Mieten in die Höhe treiben, werden die Produkte der städtebaulichen Moderne genutzt.
Mit einer naiven Sehnsucht nach den Sechzigerjahren hat das Interesse an diesen Bauten nichts zu tun – genauso wenig wie die Entscheidung der ersten Kommunarden, in eine Altbauwohnung zu ziehen, sie seinerzeit als Monarchisten geoutet hätte. Vielmehr geht es damals wie heute darum, sich einen Raum, der von den Verwertungsmechanismen der Ökonomie und der ihr zuarbeitenden Planung ignoriert wird, für eigene Zwecke zu adaptieren. Deshalb greifen auch die Argumente der Planwerk-Verfechter nicht, wenn sie ihre Kritiker als DDR-Nostalgiker bezeichnen.
In diesem Prozess spielt die Auseinandersetzung um einzelne herausragende Gebäude eine wichtige Rolle. Denn erst die kulturelle Abwertung der Gebäude einer Epoche ermöglicht dem Planungsapparat, ganze Quartiere und die Lebensweise ihrer Bewohner als nicht mehr zeitgemäß darzustellen und so einen Modernisierungszwang zu schaffen. Die Diffamierung der Stadt des 19. Jahrhunderts als „Mietskaserne“ war eine Voraussetzung für die Kahlschlagsanierung. Umgekehrt war die kulturelle Aufwertung der Altbauviertel durch sozialwissenschaftliche Forschung ein wichtiger Beitrag zu ihrer Rettung.
Einen ähnlichen Diskurs erleben wir heute bezüglich der Stadt des 20. Jahrhunderts. Das Ende der DDR machte die Verunglimpfung des modernen Städtebaus und den Großangriff durch das Planwerk zunächst einfacher. Die Entsorgung selbst der gelungensten (oder zumindest bekanntesten) Bauten dieser Epoche legitimiert dabei den bedenkenlosen Umgang mit anderen Gebäuden derselben Ära.
Umso wichtiger ist darum die Gegenrede. Die Rettung des Martin-Gropius-Baus war seinerzeit ein bedeutender Beitrag zur kulturellen Aufwertung der Stadt des 19. Jahrhunderts. Ein Verhindern des Abrisses des Ahornblatts, ein DDR-Bau mit bemerkenswerter Dachkonstruktion, wäre deshalb ein wichtiger Schritt gewesen. Doch auch im Nachhinein kann das Gebäude noch zum Symbol einer Neuorientierung werden. Die große Resonanz in der Fachwelt zeigt eine wachsende Bereitschaft, sich mit dieser Epoche auseinander zu setzen. Es besteht die Hoffnung, dass so eine Debatte in Gang kommt, die den Kritikern des Planwerks zu mehr Gehör verhilft. Auf ähnliche Weise könnte das Planwerk insgesamt zu einer wachsenden Ablehnung des stadtplanerischen Mainstreams und damit zu einem Wandel des städtebaulichen Leitbilds führen – weg vom seit Jahrzehnten gültigen Dogma des Blockrasters und hin zu einem kreativeren Umgang mit dem Erbe der Moderne. Die Anmaßung des Planwerks, die Entwicklung für Jahrzehnte zu steuern und die sozialräumliche Struktur der gesamten Innenstadt ändern zu wollen, lassen seine komplette Realisierung fraglich erscheinen. Es ist zu bezweifeln, dass noch im Jahre 2010 ein planerischer, geschweige denn ein gesellschaftlicher Konsens herrschen wird, die in den Neunzigerjahren in den Plan eingezeichneten Parzellenstrukturen bis zum bitteren Ende zu realisieren.
Das Ganze erinnert an die Maßstablosigkeit der Planer der Nachkriegsjahrzehnte. Damals wie heute war ein ursprünglich aus sozialreformerischen Motiven entwickeltes Leitbild zum Selbstzweck geworden, dessen Realisierung schließlich nicht mehr den von der Planung Betroffenen dient, sondern einer aufgeblähten Bürokratie, einer mit ihr verbündeten Architektenschaft und den Gewinnern der ökonomischen Restrukturierung. Die Baufunktionäre der Sechzigerjahre sind an ihrem Omnipotenzwahn gescheitert. Der Versuch, ganze Stadtteile mit Hilfe eines Verkehrskonzepts umzugestalten und dafür Leerstand in Kauf zu nehmen, führte zu Hausbesetzungen und leitete damit den Anfang vom Ende der damaligen Sanierungspolitik ein. Heute ist es das Planwerk, das zu einer systematischen Vernachlässigung der Nachkriegsquartiere führt und dort einen Bereich schafft, in dem sich Alternativkultur und Widerstand zu regen beginnen. So bringt das Planwerk Innenstadt also wenigstens ein bisschen Gutes mit sich: Er könnte dazu beitragen, dass die derzeit einflussreichen Planer damit ihrem zum Dogma gewordenen 30 Jahre alten Leitbild ein Grab schaufeln, so wie es die Autobahnplaner einst mit dem angestrebten Abriss von Kreuzberg 36 getan haben.
Frank Roost, Jahrgang 1968, ist Stadtplaner und promoviert am Fachgebiet Architektursoziologie der TU Berlin
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