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Rechter ZeitgeistRezeptur für Momentum dringend gesucht

Die Gesellschaft driftet nach rechts. Unsere Kolumnistin macht sich dennoch Hoffnungen, dass der Trend umkehrbar ist.

Es braucht wieder mehr Menschen, die „gegen rechts“ auf die Straße gehen Foto: imago

W e are not going back“ – das ist der Schlachtruf der US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris, es ist ihre Antwort auf das Gestern, das im „… great again“ der Trump-Kampagne gemeint ist. Es klingt fast gebieterisch, ein bisschen pädagogisch, es setzt darauf, dass die Leute weiterhin daran glauben wollen, dass das Morgen besser werden kann.

Im andauernden Gespräch darüber, wie die US-Democrats es schaffen, fortschrittliche Botschaften emotional und eingängig zu verbreiten, hört man da natürlich genau hin. Für mich und hierzulande muss ich leider festhalten, dass „We are not going back“ erst einmal traurigen Sarkasmus auslöst: Ich fürchte, wir fallen durchaus zurück, und zwar in ungefähr allen wichtigen Politikbereichen.

Zur Illustration bedarf es nur eines beliebigen Griffs in die Nachrichtenkiste, aber ich kann es auch privat beschreiben. Noch während ich mich am Abendbrottisch darüber unterhalte, dass der schwarz-rote Berliner Senat den Ausbau der Radwege – so werden hier die Holperpfade über den Baumwurzeln am Straßenrand genannt – stoppt, beginnt im Deutschlandfunk der „Hintergrund“ über die Schweiz (das sind die mit dem Frauenwahlrecht seit 1971), wo nach dem jüngsten Sieg der Rechtspopulisten der Anteil der Frauen im Parlament wieder abnimmt.

wochentaz

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Der bezaubernde Blattkritiker – ein Ex-taz-Kollege, den wir Anfang der Woche zu Gast in der Konferenz hatten – fasste all das als „rechten Zeitgeist“ zusammen, der beinahe übernommen habe. Die Jahre seien vorbei, in denen wir in dem Gefühl lebten, Klimaschutz und Gleichberechtigung seien auf dem Vormarsch. War eben bloß ein Gefühl.

Schreihälse sind zwar laut, aber nicht die Mehrheit

Oder ist es das jetzt auch bloß? Klimaschutz sei im Ranking zwar hinter Krieg zurückgefallen, aber es haben weiterhin wesentlich mehr Leute Angst vor der AfD und Fremdenfeindlichkeit als vor Zuwanderung, ergab gerade eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ich mag deren wissenschaftlichen Apparat jetzt nicht einschätzen, doch hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass die Schreihälse zwar laut, aber weit entfernt von der Mehrheit sind. Der Anteil derer, die in den sozialen Medien den rechtsextremen Trommelwirbel auf Endlosschleife gestellt haben, ist verschwindend gering, darauf weisen Digital-PolitologInnen immer wieder hin. Man darf die Atmo auf Twitter/X nicht mit der Stimmungsgesamtlage verwechseln.

Was allerdings nichts nützt, wenn trotzdem rechts regiert wird. Derselbe Kanzler, der behauptet, der Einzige zu sein, der in Ukrainedingen das Ohr am leise atmenden Brustkorb der Mehrheit hat, reagiert ausgesprochen pronto auf jede Ausländer-raus-jetzt-Forderung, die ihm auf dem Flur entgegenschallt. Und nein, ich möchte das „Sicherheitspaket“ nicht als quasi großkoalitionären Masterplan verkauft bekommen, das Thema Migration aus dem Bundestagswahlkampf rauszuhalten, indem man es jetzt „abräumt“. Es wird dabei zu viel mit abgeräumt. Da waren ein paar liberal-humanitäre Aspekte dabei, die wir noch brauchen.

Was nützen würde, wäre, wenn jemand jenes berühmt-berüchtigte Momentum zurückholen würde, dieses so schwer zu beschreibende, aber mächtige Phänomen, diesen Impuls, der im vergangenen Winter zu den lustigen und teils auch mutigen Demos im ganzen Land führte, „gegen rechts“ und für ein demokratisches und gleichberechtigtes Morgen. „Diese Demos kommen zu früh“, sagte damals ein Beobachter ahnungsvoll. Sollte jetzt also jemand die Rezeptur finden für das Verfertigen einer politischen ­Gesamtwetterlage – soundso viele Anteile TikTok plus zwei Kubikmeter Twitter plus zigtausend Leute jeden Samstag auf den Markt­plätzen der Republik oder Ähnliches –: Bitte melden!

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Ulrike Winkelmann
Chefredakteurin
Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.
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1 Kommentar

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  • Ja, ich glaube fest daran, dass das Momentum der AfD mit der übernächsten Bundestagswahl wieder abnehmen wird.



    Das Rezept um diesen Prozess zu beschleunigen ist recht einfach: Probleme der Wähler ernst nehmen und klare und umsetzbare! Handlungsoptionen vorstellen.