Rechte in Polen: Krawall am Unabhängigkeitstag
Ein Marsch nationalistischer Gruppen in Warschau artet zu einer Schlacht aus. Mehr als 300 Menschen werden festgenommen und zahlreiche verletzt.
Im blutroten Rauch von Feuerwerkskörpern und Bengalen-Fackeln feuerte einer der Demonstranten auch eine Rakete in eine Wohnung und steckte sie in Brand. Wie die Polizei später mitteilte wollte der Angreifer die zwei Etagen höher gelegene Wohnung treffen, von deren Balkon eine weithin sichtbare Regenbogenfahne der Schwulen und Lesben flatterte sowie ein zweite mit dem roten Blitz-Symbol der feministischen Bewegung „Frauen-Streik“.
Mit dem Marsch sollte nicht nur an das Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und der damaligen Wiederentstehung des polnischen Staates erinnert werden. Vielmehr wollten die nationalistischen Organisatoren auch politisch Farbe bekennen.
Waren es in der Vergangenheit meist rassistische und Anti-EU-Slogans, die auf dem Marsch gegrölt wurden und auf Transparenten zu lesen waren, so liefen in diesem Jahr tausende Jungmänner (und einige hundert Frauen) hinter einer Parole von Katholischer Kirche und nationalpopulistischer Regierung hinterher: „Unsere Zivilisation – unsere Prinzipien“.
Zu Verzicht aufgerufen
Vor zwei Jahren, am 100. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit, hatten sich Mitglieder der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) sowie Polens Präsident Andrzej Duda an die Spitze des Marsches gesetzt. Diese Jahr verwiesen sie auf die Corona-Ausnahmeregelungen und forderten dazu auf, den Marsch zum Schutz der Gesundheit vieler Menschen ausfallen zu lassen.
Die Polizei nahm mehr als 300 Personen fest, darunter 36 im Zusammenhang mit Straftaten. Ob sich auch Robert Bakiewicz, einer der Organisatoren des illegalen Marsches, vor Gericht wird verantworten müssen, ist noch offen.
Erst vor einer Woche hatte ihn die regierungsnahe Postille „Sieci“ als Helden auf ihrer Titelseite „Verteidigen wir unsere Kirchen“ gefeiert. Auf dem Titelbild-T-Shirt von Bakiewicz war eine zur Faust gereckte Hand zu sehen, die einen Rosenkranz wie einen Schlagring umklammerte. Hinter ihm demonstrierte eine „feministische Horde von linkem Lumpenpack“. So bezeichnet Polens Rechte gerne jene Polinnen, die seit Wochen gegen ein Urteil des Verfassungsgerichts protestieren, mit dem in Polen ein beinahe totales Abtreibungsverbot eingeführt werden soll.
Als sich Bischöfe und Priester überschwänglich für das Abtreibungs-Urteil bei den Nationalpopulisten von der PiS, der PiS-Regierung und dem von der PiS kontrollierten Verfassungsgericht bedankten, stürmten einige FrauenStreik-Demonstrierende 22 Kirchen und erklärten Priestern und Gläubigen während des Gottesdienstes, worum es ihnen ging. Andere Demonstrierende sprühten polenweit Frauen-Notrufnummern und den roten Blitz – das Symbol des Frauenstreiks „Achtung! Hochspannung!“ – an Häuserwände, darunter auch an die Fassaden von rund 70 Kirchen.
Bürgerwehr gegründet
Jaroslaw Kaczynski, der Parteichef der Nationalpopulisten und seit kurzem auch Vize-Premier, bauschte die paar Fälle zu „Attacken auf die Kirchen“ und einem „Angriff auf das Polentum“ auf. Öffentlich forderte er dazu auf, die katholischen Kirchen im ganzen Land zu beschützen. Daraufhin gründeten Bakiewicz und seine Anhänger die „Nationale Bürgerwehr“, die inzwischen nach eigenen Angaben mehrere zehntausend Mitglieder zählt und bereit ist, Polens Kirchen landauf landab gegen „Feministinnen und Barbarinnen“ zu verteidigen.
Die Frauen allerdings, die in den vergangenen Tagen gemäß der Corona-Ausnahmeregeln immer nur „spontan“ und zu fünft zu einem „Spaziergang“ zusammen trafen, hatten sich für den Unabhängigkeitstag eine „Quarantäne vom Nationalismus“ auferlegt und dazu aufgefordert, an diesem Tag zuhause zu bleiben. Wer wollte, konnte am Unabhängigkeitstag das Internet von nationalistischen und neofaschistischen Einträgen säubern.
Die meisten Demonstrantinnen der letzten Tage hielten sich daran. So gelang es, ein Aufeinanderstoßen der beiden Gruppen und weitere Ausschreitungen der Nationalisten zu vermeiden. Polens katholische Kirche aber wird die grölenden „Verteidiger von Vaterland, Gott und Ehre“ vor den Kircheneingängen so schnell nicht mehr los werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste