: Für Ent-warnung ist es zu früh
Zerstritten und zersplittert: Im neuen Europaparlament spielen die Rechten keine große Rolle. Doch das kann sich noch ändern
Aus Straßburg Eric Bonse
Der „Cordon sanitaire“ – die europäische Brandmauer gegen rechts – hält. Bei der Verteilung der wichtigsten Posten im neu gewählten Europaparlament in Straßburg sind die Rechtsradikalen und Nationalisten leer ausgegangen. Sie konnten keine großen Parlamentsausschüsse übernehmen und haben nur einen Vizepräsidenten ergattert.
Zwar wird mit Antonella Sberna künftig auch ein Mitglied der rechtsradikalen Fratelli d’Italia die mit großer Mehrheit wiedergewählte Parlamentspräsidentin Roberta Metsola vertreten. Mehr als ein Achtungserfolg für Italiens postfaschistische Regierungschefin Giorgia Meloni, die die Fratelli leitet, ist das aber nicht. Von einer zentralen Rolle in der EU ist Meloni, anders als erwartet, weit entfernt. Vor der Europawahl war die machtbewusste Italienerin oft als „Königsmacherin“ beschrieben worden. Denn EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte offen um Meloni und die Stimmen ihrer rechten Parteifreunde im Europaparlament geworben.
Doch die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), die Meloni anführt, sind nur die viertgrößte Fraktion im neuen Parlament geworden. Auf Platz drei hat sich die neue Fraktion der Patrioten für Europa geschoben, in der Frankreichs Nationalistenführerin Marine Le Pen und Ungarns Rechtspopulist Viktor Orbán den Ton angeben.
Die EKR ist nicht mehr so wichtig; selbst als Mehrheitsbeschafferin für von der Leyen wird sie bei der entscheidenden Abstimmung am Donnerstag wohl nicht mehr gebraucht. Denn diese Rolle haben die Grünen übernommen – sie haben sich dem Wahlbündnis für von der Leyen angeschlossen, um eine Mehrheit auch ohne die Rechten zu sichern.
Praktisch bedeutungslos ist die AfD und ihre in letzter Minute aus dem Boden gestampfte Fraktion Europa der Souveränen Nationen (ENS). Fraktionschef René Aust (AfD) gebietet lediglich über 25 Abgeordnete aus rechtsextremen Klein- und Kleinstparteien. Aus Sicht der anderen beiden Rechts-Fraktionen ist er das (entbehrliche) dritte Rad am Wagen.
Es wäre allerdings falsch, die zersplitterte Rechte völlig abzuschreiben. Zum einen ist sie stärker denn je: Nimmt man alle drei Fraktionen zusammen, so erreichen sie mit 187 Abgeordneten fast so viele wie die seit Jahrzehnten tonangebende Europäische Volkspartei (EVP) um von der Leyen (188). Sie hängen auch die Liberalen ab, die mit 53 Parlamentariern nur noch die fünftgrößte Fraktion bilden (früher war Renew die Nummer drei).
Zum anderen ist nicht auszuschließen, dass sich die bisher fast lehrbuchmäßig verfeindeten, weil national dominierten Fraktionen – EKR für Italien, Patrioten für Frankreich und ENS für Deutschland – irgendwann doch noch vereinen. Eine „nationalistische Internationale“ klingt zwar paradox, ist aber durchaus noch möglich.
Außerdem sind die Rechten nicht nur im Europaparlament stärker geworden, sondern auch in den EU-Staaten. In Italien, den Niederlanden und Kroatien sind Rechtsextreme sogar an der Regierung beteiligt – dort hat der „Cordon sanitaire“ nicht gehalten. In Den Haag paktieren die Liberalen mit den Rechten, in Kroatien die EVP.
„Die Mitte hält“, haben die proeuropäischen Parteien nach der Europawahl erleichtert ausgerufen. Doch in vielen Ländern franst die Mitte bedenklich aus. Und die Europapolitik wird nicht nur im EU-Parlament gemacht, sondern auch im Rat, der Vertretung der 27 EU-Staaten. Dort könnten die Rechten auch Einfluss auf die Gesetzgebung bekommen.
Für Entwarnung ist es also zu früh – auch wenn der „Cordon sanitaire“ im neuen Europaparlament hält.
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