Realistische Malerei in Hamburg: Ein katholisches Glühen
Die Hamburger Deichtorhallen zeigen eine Retrospektive des Schweizer Malers Franz Gertsch. Sind seine riesigen Gemälde wirklich so hyperrealistisch?
Gemälde von Franz Gertsch haben immer etwas Skandalisierendes. Aber zwanzig von den bunten Großformaten, wie sie jetzt in den Hamburger Deichtorhallen hängen, sind kaum zu fassen in ihrer hedonistisch getriebenen Radikalität. Man muss sich ein Lieblingsgemälde suchen, eines der ins Riesige projizierten Gesichter oder eines der Gruppenbilder, und sich darin versenken. Dann wird das eigene Sehen zur Arbeit, die man, im preußisch-puritanischen Sinn, irgendwann erledigt hat. Was nun gleich zu der Frage führt, wo das katholische Glühen in Franz Gertschs Gemälden eigentlich herkommt. Jedenfalls hatte er, der 2022 im Alter von 92 Jahren starb, eine sehr lebendige Beziehung zur fleischlichen Welt.
Folgt man der pädagogischen Beschilderung seiner Retrospektive in Hamburg, hat er sich zunächst an gefundenen Fotografien versucht, dann eigene erstellt und diese dann bis ins letzte Detail ausgemalt. Dies ist auch die Illusion, die seine riesigen Gemälde, beginnend 1971, nahelegen. Aber es kann nicht sein. Denn Kleinbildfotografien, schon vergrößert auf A1, geben deutlich ihr Korn preis. Die Wirkung ist dieselbe wie bei Pixeln heute: Je mehr die kleinste Einheit in Erscheinung tritt, desto verschwommener wird das Abbild.
Die Beziehung seiner Malerei – oft nur mit gewöhnlicher Wandfarbe auf unpräparierter Leinwand – zur Fotografie ist vampirhaft. Sie saugt das Fotografische auf und nährt sich davon. Von der Alltagsfotografie nimmt sie: die Kadrierung, den Moment, die Zeugenschaft und die Zärtlichkeit. Zugegeben, die Zärtlichkeit gehört nicht zu einer Theorie der Fotografie. In der Ergründung von Details bleibt der Maler nur vage in der fotografischen Logik, er folgt der Vermutung, was wohl mit einer Linse bei diesem Licht auf Kodachrome gebannt hätte werden können, stilistisch bis in das abstrakteste Flirren. Das Malerische daran ist die komplette Camouflage.
Interessant, dass es nicht gleich klappt, obwohl die drei kleinen Kinder in der Badewanne in ihrer häuslichen Intimität auf dem Bild „Brecht, Hanne-Lore, Silvia“ ungeheuer gut getroffen sind. Das Hochformat scheint ein Hindernis zu sein. Noch mehr aber das Familiale. Das ist eine seltsame Sache in der Geschichte der Malerei, bei Velázquez, Manet oder Beckmann hebt das große Projekt erst ab, wenn eine bestimmte soziale Distanz gefunden ist, nicht mehr persönlich und noch nicht offiziell. Der Familienvater Gertsch findet solch eine Distanz in der Künstlerboheme. Deren Dreh- und Angelpunkt sieht er in einem offensichtlich vermögenden, sehr jungen Künstler mit einem weichen, zu gepamperter Gleichgültigkeit neigenden Gesicht: Luciano Castelli.
Gertsch ist gar nicht Pop
Jetzt sind es Querformate, so etwas wie Plakate-als-Fotos-als-Gemälde, die ein mediales Motiv bei Andy Warhol geliehen haben, das des „Superstars“. In „Medici“, vier mal sechs Meter, erscheinen fünf langhaarige Männer hinter einer Holzbarriere. Ihre Ausrichtung im Halbprofil, ihre Stimmung und Ähnlichkeit gibt ihnen etwas Jüngerhaftes. Superstar Luciano Castelli wächst auf den Foto-Pompgemälden in seine Rolle. Er ist zwölf Jahre jünger als Gertsch, schwebend zwischen Kunst und Musik, der spirituelle Anker einer WG in einer abgewrackten Villa in Luzern. Ausgerechnet Luzern! Als er dann 1978 in Westberlin am Moritzplatz auftauchen wird, ist es mit seiner Zweitkarriere als Stilikone in Franz-Gertsch-Gemälden vorbei.
Patti Smith, in den 70ern mit ihren Gedichtlesungen ungefähr so erfolgreich wie Troubadix beim Singen, wird in eine Kölner Galerie gelockt, ärgert sich über den Blitzlichtfotografen, ist dabei, ein Blatt Poesie zu zerknüllen: Noch einmal drückt Gertsch auf den Auslöser. So entsteht die Vorlage für sein riesiges Gemälde mit Smith links im Bild und viel weißer Wand rechts davon.
Gertsch selbst ist gar nicht Pop, nicht laut und flüchtig, sondern ganztags ein besessener Diener der Kunst in einem riesigen Atelier in der deutschsprachigen Schweiz, mit Paintbrush und Pinsel seine Motive zusammenflickend. Wie man an seiner nächsten Phase sieht, den Holzschnittdrucken auf Japanpapier, ist ihm das Sujet Natur. Dass am Ende eines derartig akribischen Prozesses alles atmet, ist mehr als unwahrscheinlich. Aber das tut es. Vielleicht ließe sich seine Arbeit mit der eines Romanciers vergleichen. Das Modewort der Diskursverwalter heißt ja auch immer noch „lesen“.
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