geiselnahme in moskau: Reaktion auf die Gleichgültigkeit
Zur gleichen Zeit, als in Moskau ein tschetschenisches Kommando das Musical „Nord-Ost“ unterbrach und Publikum wie Schauspieler als Geiseln nahm, diskutierte der Außenminister der USA mit Studenten im mexikanischen Las Cabas. Anlass war das Treffen der Asien-Pazifik-Staaten. Was Powell den Studenten nahe brachte, liest sich wie ein Kommentar zu den Gründen der Moskauer Geiselnahme: „Wenn die Menschen Hoffnung in ihre Zukunft setzen“, so Powell, „und Chancen für ein besseres Leben sehen, werden sie terroristische Aktivitäten in ihren Gesellschaften nicht dulden.“
Kommentar von CHRISTIAN SEMLER
Viel Hoffnungen auf ihre Zukunft kann die Bevölkerung Tschetscheniens seit dem Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges Ende 1999 tatsächlich nicht aufbringen. Längst ist die russische Militäraktion, die angeblich der Verbrechensbekämpfung diente, zu einem Terrorfeldzug gegen die Zivilbevölkerung degeneriert. Über die Search-and-destroy-Operationen der russischen Armee dringt wenig nach außen. Und was bekannt wird, vermag die Vorurteile in der russischen Bevölkerung gegenüber den Tschetschenen, den „Schwarzen“, nicht zu erschüttern. Sie gelten allesamt als Schieber und Banditen.
Mutige Journalisten wie Anne Nivat haben sich ohne russische Erlaubnis in Tschetschenien aufgehalten. Ihre Berichte zu den Verbrechen der russischen Sodateska wurden im Westen achselzuckend zur Kenntnis genommen. Putin war zu wichtig als Partner der internationalen Allianz gegen den Terror, um ihn mit den Fakten des Staatsterrorismus zu belästigen. So dachte auch Kanzler Schröder, als er anlässlich des Besuchs von Putin in Deutschland im September 2001 bemerkte: „Ich habe gemeint, dass es im Bezug auf Tschetschenien zu einer differenzierteren Bewertung der Völkergemeinschaft kommen muss und sicher auch kommen wird.“
Zu differenzieren, ist immer richtig. Schade nur, dass am Ende des Differenzierungsversuchs zwar jede Menge über die ach so rückständige, zerrissene und von Kriegsunternehmern beherrschte tschetschenische Gesellschaft zu erfahren ist, aber kaum etwas über die Menschenrechtsverletzungen der russischen Besatzer.
All das rechtfertigt nicht die Moskauer Geiselnahme. Aber wir sollten verstehen, dass sie in erster Linie eine Reaktion auf die Gleichgültigkeit angesichts des Mordens der russischen Armee in Tschetschenien ist und ein Protest gegen das obszöne Messen mit zweierlei Maß.
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