Raul Krauthausen über Mediennarrative: „Die Sprache ist paternalistisch“
Medien stilisieren Menschen mit Behinderung oft als Held*innen oder Opfer. Raúl Krauthausen fordert, dass Journalist*innen sich mehr hinterfragen.
taz: Herr Krauthausen, Sie beschäftigen sich seit Jahren damit, wie Menschen mit Behinderung in den Medien dargestellt werden, und haben 2010 über das Thema ihre Diplomarbeit verfasst. Welches Narrativ beobachten Sie am häufigsten?
Meistens die leidvolle Geschichte, wo gesagt wird, jemand „meistert tapfer sein Schicksal“, macht „trotz der Behinderung“ etwas, „kämpft sich zurück ins Leben.“ Es wird davon ausgegangen, dass Behinderung eine Bürde, etwas Schmerzhaftes, zu Therapierendes sei. Entweder das oder die Darstellungsweise ist übertrieben positiv, und die Person wird zum Superhelden hochstilisiert.
Was finden Sie daran problematisch?
Es wird immer der Mensch mit Behinderung direkt oder indirekt als verantwortlich gesehen, wie mit einer Behinderung umzugehen ist. Also er oder sie sollte Therapie machen, er oder sie wird bewundert, weil er „trotz der Behinderung“ einkaufen geht, in die Disco geht oder Drogen nimmt. Viel zu wenig wird diskutiert, warum es eigentlich so eine Seltenheit ist, Menschen mit Behinderung in der Disco zu sehen. Warum Menschen mit Behinderung eigentlich alle therapiert werden sollten. Warum reden wir nicht darüber, mehr Aufzüge zu bauen oder barrierefreie Schulmaterialien zu kreieren?
geboren 15. Juli 1980 in Peru, lebt in Berlin. Er ist studierter Kommunikationswirt und Design Thinker und arbeitet als Blogger, Moderator, Menschenrechts- und Inklusionsaktivist. Im April 2013 hat Raúl Krauthausen für sein soziales Engagement das Bundesverdienstkreuz erhalten. 2014 veröffentlichte er seine Autobiografie „Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Das Leben aus der Rollstuhlperspektive.“
Man kann das an der Debatte über Gehörlöse sehen, wo die Frage gestellt wird: Sollten alle Menschen Gebärdensprachen lernen oder sollten Gehörlose ein Cochlea-Implantat tragen? Das Zweite ist ein körperlich-medizinischer Eingriff, der irreversibel ist, und das andere ist etwas, was man unterrichten könnte oder für das man Untertitel bereitstellen könnte. Ist die Person mit Behinderung das Problem oder die Gesellschaft? Journalist_innen stellen zu selten die Frage, ob die Gesellschaft das Problem ist.
Warum haben nichtbehinderte Menschen so große Wissenslücken, was Menschen mit Behinderung angeht?
Das liegt zum einen daran, dass wir viel zu wenig diskutieren, warum Menschen mit Behinderung selten zu sehen sind im Alltag. Das hat oft mit exkludierenden Strukturen zu tun. Menschen mit Behinderung landen in Förderschulen und Werkstätten und nicht in Regelschulen. Der Grund dafür ist die Behinderung, aber es wird viel zu wenig auch medial diskutiert, ob die Mehrheitsgesellschaft es sich damit nicht zu einfach macht. Also Minderheiten wegsperren, das sag ich jetzt mal so böse, ist einfacher, als die Mehrheitsgesellschaft für Menschen mit Behinderung zu öffnen.
Und was könnten Medien konkret anders machen?
Ich glaube, Journalist_innen sind in der Verantwortung, sich immer mehr mit der Frage zu beschäftigen: Warum existieren diese Strukturen eigentlich immer noch? Wer spricht eigentlich über Behinderung? Sind das wieder nur Politiker und Politikerinnen, Werkstättenbetreiber_innen und Pädagog_innen oder sind es auch Menschen mit Behinderung selbst? Auch in Selbstvertretung? Das ist so ein bisschen wie bei Kindern. Kinder haben in Deutschland ebenfalls keine Lobby, da reden nur die Erwachsenen. Bei dem Thema Behinderung ist es ähnlich. Journalist_innen könnten hier einfach mal anfangen, indem sie behinderte Menschen fragen, was sie sich wünschen und was sie brauchen.
Welche Medien nutzen Sie regelmäßig?
Fast ausschließlich das Internet. Ich lese keine Zeitungen oder schaue Programmfernsehen. Allerdings nicht aufgrund meiner Behinderung, sondern das ist so ein Generationending. Ich höre Podcast, nutze YouTube, Facebook und lese Blogs. Ansonsten noch bisschen Spiegel Online, wie alle eben.
Wie schätzen Sie die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Redaktionen ein?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Superschlecht. Es gibt viel zu wenig Menschen mit Behinderung im Journalismus. Was zum Teil daran liegt, dass der Journalismus aktuell sowieso eine kleine Krise hat. Die Liste von Menschen, die in Redaktionen unterrepräsentiert sind, ist sehr lang. Ein weiteres Problem ist, dass Menschen mit Behinderung die Arbeit im Journalismus zum Teil nicht zugetraut wird, und auch die journalistische Ausbildung ist problematisch. Menschen mit Behinderung werden in Journalismusschulen gar nicht erst angenommen, weil die Räumlichkeiten oder die Materialien nicht barrierefrei sind. Das Thema ist da gar nicht präsent.
Nehmen Sie auch positive Veränderungen in der Berichterstattung wahr?
Wir beobachten im Rahmen unseres Portals leidmedien.de, mit dem wir Medien zum Thema Inklusion beraten, spannende Veränderungen. Wir hatten zum Beispiel vor ein paar Jahren eine Anfrage der Kindersendung „1,2 oder 3“. Die Redaktion hatte beobachtet, dass immer mehr Schulklassen mit Kindern mit Behinderung in die Studios kommen, aber das Studio nicht barrierefrei ist zum Mitspielen.
Das heißt, die haben von sich aus den Druck verspürt, da jetzt was tun zu müssen. Da war kein Aktivist oder ein Interessenverband, der dem ZDF die Leviten gelesen hat. Die Redaktion ist von selbst auf die Idee gekommen: „Da könnten wir ja was machen.“ Die haben uns dann gefragt: „Wie können wir unser Studio barrierefrei machen?“ Wir haben denen ein paar Tipps gegeben, sind nach Mainz gefahren, haben mit dem Moderator Elton über Studiodesign gesprochen. Es hat danach noch anderthalb Jahre gedauert, bis es umgesetzt wurde, aber jetzt ist das Studio für rollstuhlfahrende Kinder einigermaßen zugänglich. Jetzt spielen immer mal wieder Kinder mit Behinderung in den Teams mit und zeigen damit Tausenden Kindern vorm Fernsehen: Die gehören dazu. Ich würde die These aufstellen, dass das Bewusstsein in Redaktionen gestiegen ist, dass Behinderung ein Bestandteil der Gesellschaft ist und das es nicht immer in Sonderwelten stattfinden muss. Das Beispiel war ein kleiner messbarer Erfolg, aber es ist noch ein ganz weiter Weg zu gehen. Ich glaube aber, man kann das Thema nicht mehr wegdiskutieren. Es ist jetzt da und es wird weiter nerven.
Sie verschicken wöchentlich einen Newsletter, unter anderem mit Links zu Medieninhalten rund um das Thema Inklusion. Fällt Ihnen in der Berichterstattung eine Sensibilisierung in der Sprache auf?
Also die Phrase „an den Rollstuhl gefesselt“ findet man nicht mehr so häufig. Die Darstellung des übertriebenen Leidens wird weniger. Insgesamt ist die Sprache aber noch sehr paternalistisch, es wird weiterhin noch sehr von oben herab berichtet.
Welche Wörter oder Sätze wollen Sie in der Berichterstattung über Inklusion in Zukunft nicht mehr lesen?
Neben den Sätzen, in denen Menschen etwas „trotz Behinderung“ machen, möchte ich nicht mehr die Darstellung lesen, dass blinde Menschen in der Dunkelheit leben oder gehörlose Menschen in der Stille. Auch kann ich die ganzen Floskeln mit „auf Augenhöhe“ und „Barrieren in den Köpfen“ nicht mehr hören. Es geht nicht nur um die Barrieren in den Köpfen, es geht auch um die physikalischen Barrieren.
Es gibt immer wieder das Narrativ, dass es darum geht, dass wir die Mehrheitsgesellschaft sensibilisieren, aufklären müssen. Eigentlich alles, was die „Aktion Mensch“ macht, alles, was das Bundesministerium für Arbeit und Soziales macht, bedient dieses Narrativ. Menschen mit Behinderung sagen aber: Es geht nicht darum, die Mehrheitsgesellschaft darüber aufzuklären, dass behinderte Menschen auch Menschen sind. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Sondern es geht darum, dass man behinderte Menschen in die Lage versetzt, ihre Rechte zu erkämpfen und Hürden zu beseitigen. Wir verstehen erst durch die physikalische Begegnung, dass Menschen mit Behinderung Teil der Gesellschaft sind.
Wir wissen aus der Vorurteilsforschung, dass davon auch Menschen mit Migrationshintergrund betroffen sind. Dass die Vorurteile da am größten sind, wo die reale, physikalische Begegnung am niedrigsten ist. Das heißt, ich kann noch so viele Werbespots schalten, Broschüren drucken, doch der Rassismus wird bleiben. Erst wenn der Erzieher meiner Kinder Migrationshintergrund hat, verstehe ich, dass das auch ein Mensch ist. Ähnlich ist das beim Thema Behinderung. Es geht nicht um Aufklärung, es geht um das Durchsetzen von Rechten.
Melden Sie Redaktionen problematische Darstellungen von Menschen mit Behinderung zurück?
Ich habe aufgehört, das Internet aufzuräumen. Früher habe ich Redakteure angeschrieben und gesagt: „Hey, checkt mal eure Sprache.“ Aber da kommst du ja nicht hinterher. Man muss schauen, ob es größere Strukturen gibt, auf die man einwirken kann. Etwa Fortbildungen und Seminare für Redaktionen anbieten oder eben so was wie leidmedien.de etablieren. Ansonsten gilt in meinen Augen die Leitlinie bei journalistischen Anfragen: Je privater ein Sender, desto weniger sollte man mitmachen. Private Sender sind in der Regel immer nur auf die Sensation, das Schicksal und das Leid anderer Menschen aus und machen selten wirklich investigative und fundierte Recherchen.
Sie kritisieren, dass Menschen mit Behinderung wegen alltäglichen Dingen porträtiert und als Held*innen gefeiert werden. Andererseits sind sie in der medialen Darstellung aber unterrepräsentiert. Was würden Sie sich da für einen Umgang wünschen?
Also als Überraschungsmoment fände ich es mal schön, wenn Menschen mit Behinderung bei Straßenumfragen befragt werden würden. Oder etwa mal als Experten für die Finanzwirtschaft Menschen im Rollstuhl zu Wort kommen. Menschen, die sich damit auskennen, gibt es definitiv.
Welche Reaktionen begegnen Ihnen auf Ihren Aktivismus?
Eine Menge Hass, vor allem auf Twitter. An meinem Newsletter und den dort verbreiteten Inhalten sind die Leute interessiert, aber das sind schon Menschen, die bekehrt sind. Ich lebe da in einer Blase und habe viel Kontakt mit Menschen, die aufgeklärt sind. Die Frage, die ich mir jetzt stelle, ist: Wie kann ich Menschen erreichen, die sich noch gar nicht mit Inklusion beschäftigt haben und das bisher auch nicht wollen? Noch habe ich darauf keine Antwort gefunden.
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