Rabbiner Jona Simon über Sündenböcke: „Man befreite sich von den Taten“
Im frühen Judentum belud man einen Ziegenbock mit den Sünden des Volkes und jagte ihn in die Wüste. Gesühnt wurden so die Vergehen vor allem gegen Gott
taz: Herr Simon, haben die Juden den Sündenbock erfunden?
Jona Simon: Das Wort selbst stammt wohl aus Martin Luthers Bibel-Übersetzung. Im hebräischen Original steht nur „männliche Ziege als Sündopfer“. Und was das Ritual betrifft: Ich glaube nicht, dass die Juden das erfunden haben. Aber die Bibel ist der Ort, wo es überliefert ist – im 3. Buch Mose im Buch Leviticus.
Was steht da genau?
Gott sagt zu Moses: Ihr bekommt von mir die Möglichkeit, eure Übertretungen zu sühnen, indem ihr mir etwas opfert – beim alljährlichen Vergebungsfest Yom Kippur. Dazu muss man wissen: Opfern war im frühen Judentum die einzig bekannte Möglichkeit, Gott zu dienen. Gott sagte also: Bringt mir zwei Ziegenböcke. Der Hohepriestesr Aaron soll für sie zwei Lose fertig machen. Auf dem einen steht: Für den Ewigen – also für Gott. Auf dem anderen steht: für Asasel.
Wer ist Asasel?
Eine interessante Figur, die nur an dieser einen Stelle der Tora – der jüdischen Bibel – vorkommt. Man nimmt an, dass es ursprünglich ein Wüstendämon war, der in die Tora übernommen wurde. Jedenfalls wurde der für Gott bestimmte Bock sofort getötet und auf dem Altar geopfert. Dem für Asasel bestimmten Bock legte der Hohepriester die Hände auf den Kopf und übertrug ihm alle Sünden des Volkes. Dann wurde das Tier von einem bereit stehenden Mann in die Wüste gebracht.
Um zu verhungern?
So war es gedacht. Man nimmt aber an, dass dieser Mann dafür sorgte, dass der Bock auf keinen Fall in fruchtbarere Gegenden floh und irgendwann sündenbeladen zurückkehrte. Vielleicht hat er ihn in der Wüste in eine Schlucht hinuntergestürzt, man weiß es nicht.
War das Ganze ein Ablasshandel mit Gott?
Nein. Ablasshandel hieße ja: Ich tue etwas, du verzeihst mir, und ich tue es nächste Woche wieder, denn ich weiß, durch welche Ersatzhandlung ich mich freikaufen kann. Das jüdische Sündopfer war aber eher ein symbolisches Reinigungsritual.
39, ist seit 2011 Rabbiner beim Landesverband der jüdischen Gemeinden Niedersachsen und betreut dort fünf Gemeinden. Zudem ist er rabbinischer Studienleiter beim Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk für jüdische Begabtenförderung in Berlin. Daneben ist er zuständig für die Rabbinatsausbildung am Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg.
Wieso musste es ausgerechnet der Ziegenbock sein?
Die einzigen Tiere, die für das Opfer auf dem Altar infrage kamen, waren domestizierte Tiere – Rinder, Schafe und Ziegen. Ärmere Leute durften auch Tauben opfern. Dabei hatte jedes Tier eine bestimmte Funktion. Für einige Opfer wurden Lämmer geschlachtet, für andere Schafe oder Rinder. Beim Sündopfer müssen es zwei Ziegenböcke sein. Die Gründe kennen wir nicht.
Gab es das Sündopfer damals nur bei den Juden?
Nein. In Babylonien, eventuell auch in Ägypten, hat es ähnliche Kulte gegeben, in denen Sünden symbolisch auf einen Gegenstand oder Tier – vielleicht sogar einen Ziegenbock – geladen und dann in die Wüste geschickt oder getötet wurden.
War das Opfern des Bocks historisch gesehen eine Verbesserung? Ersetzte es ein Menschenopfer?
Im Judentum sind nie Menschen geopfert worden. In vielen Kulten ringsherum aber sehr wohl. So baute ein Volk, das in der Gegend des heutigen Jerusalem lebte, einen mehrstöckigen Ofen, in dem eine schwarze Ziege, eine schwarze Katze, ein schwarzer Hahn und das erstgeborene Kind geopfert wurden. Das geschah in einem Tal, das heute unterhalb der Jerusalemer Altstadtmauern liegt. Es heißt Tal des Henom, und man sagt, dass dort einer der Eingänge zur Hölle lag.
Ist es heute bewohnt?
Nein, nicht einmal bebaut, obwohl es von der Lage her – mitten in Jerusalem – ein „Sahnestück“ wäre. Nicht, dass man heute noch abergläubisch wäre. Aber niemand käme auf die Idee, sich in diesem Tal ein Grundstück zu kaufen und dort ein Haus zu bauen.
Sie sagten eben, der Bock habe die Sünden des Volkes übernommen. Der einzelne Mörder kam also davon?
Nein, er musste für sich selber sühnen. Es ist ein Unterschied, ob ich meinen Mitmenschen etwas antue oder Gott. Wenn ich meinem Nachbarn eine Ziege stehle, bin ich für Schadenersatz verantwortlich. Ich muss ihm eine Ziege sowie eine Strafzahlung zukommen lassen. Ich muss ihn um Verzeihung bitten, und er muss mir verzeihen. Erst dann ist zwischen uns alles in Ordnung. Beim Sündenbock dagegen geht es um Taten, die ich Gott gegenüber begangen habe. Wenn ich zum Beispiel nicht koscher gegessen oder den Sabbat nicht eingehalten habe.
Das scheinen mir eher harmlose, formale Übertretungen zu sein.
Es können auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit sein, die das Volk als Ganzes verübt hat – zum Beispiel ein Angriffskrieg. Der ist nach jüdischem Gesetz verboten und folglich auch eine Sünde gegen Gott.
Und wie wurden und werden im Judentum Verbrechen zwischen Individuen gesühnt?
Der Täter muss um Verzeihung bitten, und zwar sehr konkret. Heutzutage schreibt man gern bei Facebook: „Alle, denen ich im vergangenen Jahr Unrecht getan habe, bitte ich hiermit um Verzeihung.“ Aber so funktioniert das nicht. Ich muss zu der Person hingehen und sagen, wofür ich konkret um Verzeihung bitte. Das sollte ich vor Yom Kippur tun. Da ich aber nicht weiß, ob ich den nächsten Yom Kippur noch erlebe, sollte ich damit nicht lange warten.
Und wenn mir der andere nicht verzeiht?
Wenn jemand vor Yom Kippur kommt und mich um Verzeihung bittet, sollte ich mein Möglichstes tun, ihm zu vergeben. Wenn er inständig bittet und bereut, bin ich quasi verpflichtet, ihm diese Verzeihung zu gewähren, damit er sündenfrei in den Yom Kippur gehen kann.
Und wenn man an Yom Kippur vor Gott steht: Gibt es ein spezielles Gebet?
Ja. Schon zu biblischen Zeiten sprach man parallel zum Sündopfer. Später hat man dann das „Kol Nidre“ gesprochen oder gesungen. Es bedeutet: „Alle Gelübde, die wir abgelegt haben, alle Schwüre, die wir geleistet und nicht eingehalten haben, sollen in diesem Augenblick als nichtig gelten.“ Weil es eine juristische Formel ist, muss es dreimal wiederholt werden, damit es gültig ist und man den Versöhnungstag frei von Altlasten begehen kann.
Alle Schwüre werden nichtig?
Nein. Nur diejenigen, die ich Gott gegenüber geleistet habe. An Verträge mit Menschen bin ich weiterhin gebunden. Davon können mich nur die Vertragspartner befreien, wenn ich sie darum bitte.
Heute ersetzt das Kol-Nidre-Gebet also die Verjagung des Sündenbocks.
Ja, und nicht nur das. Das Kol Nidre ersetzt jedes Opfer, das früher gebracht wurde, und das waren zu biblischen Zeiten viele: drei Opfer täglich, an Feiertagen mehr. Das muss eine ziemlich blutige Angelegenheit gewesen sein und fand alles im Tempel statt. Nachdem die Römer ihn im Kampf um Jerusalem im Jahr 70 zerstört hatten und man keinen Altar und Opferort mehr hatte, beschlossen die Rabbis, stattdessen nur die Gebete zu sprechen. Und zwar zu denselben Zeiten, zu denen einst die Opfer gebracht wurden.
Heutzutage sind oft Menschen Sündenböcke – eine Rückkehr zum Menschenopfer …
Ja, die Bedeutung hat sich verschoben. Für etwas, das irgendeiner gesellschaftlichen Gruppe nicht gut tut oder fehlt oder falsch gemacht wurde, braucht man einen Verantwortlichen. Also sucht man sich meist eine Minderheit oder eine schwächere Gruppe oder Einzelperson, um ihr die Schuld zu geben. Das kann der gemobbte Mitarbeiter sein, aber auch eine ganze Volksgruppe.
Wenn der Sündenbock einmal ausgewählt ist, schweißt das die restliche Gruppe zusammen. War das auch im frühen Judentum so?
Dass es heute so funktioniert, kann ich mir gut vorstellen. Wenn man jemanden als Schuldigen identifiziert hat, ist die ganze Gruppe ja wieder gereinigt, weil man weiß: Wir sind alle unschuldig, wir sind wieder eins. Die Bösen sind die anderen, das Böse ist ausgelagert. Zu biblischen Zeiten war der Sündenbock-Kult eher ein symbolisches Reinigungsritual und diente nicht der individuellen Schuldabwehr. Man schickte ja nicht eine Gruppe oder Person „in die Wüste“, sondern befreite sich von den Taten, die das Volk negativ belasteten.
Wohingegen ein Sündenbock heute der „Stuntman“ des eigentlich Schuldigen ist.
Ja. Der muss dann keine Verantwortung mehr übernehmen für die eigenen Taten.
Allerdings ist heutzutage nicht jeder Sündenbock unschuldig.
Ich glaube, es ist irrelevant, ob die Person schuldig ist. Denn es geht ja um etwas Strukturelles, einen psychologischen Mechanismus: jemanden zu finden, der nicht ich bin. Ich benenne etwas Äußeres – sei es eine Person oder ein Umstand –, das mich dazu gebracht hat, etwas zu tun.
Und dann gibt es noch den Trick, sich lauthals als Opfer zu stilisieren, das zum Sündenbock gemacht wird, um von eigener Verantwortung abzulenken.
Ja, das kann passieren. Andererseits: Wenn mir jemand sagt: „Ich bin nur der Sündenbock“, ist das für mich Anlass, die Situation genauer anzuschauen. Als Seelsorger empfinde ich das eher als Hilferuf eines Menschen, der als schuldig gilt und sich nicht wehren kann. Es kommt natürlich auch vor, dass jemand überfordert ist. Man überträgt ihm eine Aufgabe, an der er scheitern muss, und erzeugt gezielt einen Sündenbock. Da heißt es dann: Der Flughafen Berlin wird nicht gebaut, weil die Baufirma schlecht gearbeitet hat. Und der gesamte Vorstand ist unschuldig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Analyse der US-Wahl
Illiberalismus zeigt sein autoritäres Gesicht