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REPLIK AUF EBERHARD SEIDEL: FRIEDENSBEWEGUNG IST NICHT NAIVBestrafung ja, Rache nein

Viel Herz, wenig Verstand und grenzenlose Naivität wirft Eberhard Seidel in seinem gestrigen Kommentar der Friedensbewegung vor. Sie unterstelle den USA, die Erde in den dritten Weltkrieg stürzen, einen Krieg gegen den Islam führen und schnelle Rache üben zu wollen. Das sei nun aber alles falsch, daher sollten die „Blitzdenker“ lieber einen Moment schweigen. Fragt sich, wer hier wem etwas unterstellt. Die zahlreichen Aufrufe der Friedensbewegung seit dem 11. September sagen jedenfalls etwas anderes. Sie warnen vor der Gefahr militärischer Eskalation und dem Tod weiterer Zivilisten, sollte es zu Vergeltungsschlägen und Bombardements tatsächlicher oder vermeintlicher Ziele kommen. Der recht einheitliche Tenor aller Aufrufe war: „Bestrafung ja, Rache und Vergeltung nein.“ Was soll daran naiv sein?

Eberhard Seidel meint, es sei ein Widerspruch, wenn die Friedensbewegung die USA dazu aufriefe, nicht überstürzt zu handeln, ohne die Täter zu kennen, gleichzeitig aber Analysen über deren Motive vorlege. Da hätte er Recht, wenn sich die Friedensbewegung tatsächlich an diesem Unterfangen versucht hätte. Hat sie aber nicht. „Solange die reichen Industriestaaten mit erheblicher struktureller, vor allem wirtschaftlicher, oft auch mit direkter Gewalt verhindern, dass den hungernden und verhungernden Millionen in armen Ländern geholfen wird, düngen sie selbst den Boden, aus dem Hass, Fanatismus und blindwütige Gewalt hervorgehen“, schreiben etwa Initiativen wie Pro Asyl und Humanistische Union drei Tage nach den Anschlägen. Und weiter: „Nicht Krieg, sondern gerechte Strafe, nicht neue Gewalt, sondern eine Außen- und Entwicklungspolitik, die der Gewalt den Boden entzieht, sind jetzt notwendig.“ Wohlgemerkt: Die Friedensbewegung fordert nicht, man solle doch bloß die armen Terroristen in Ruhe lassen; sie fordert vielmehr deren Bestrafung. Aber zu Recht weist sie darauf hin, dass mehr geschehen muss, als etwa das Bin-Laden-Netzwerk zu zerschlagen, wenn es tatsächlich darum gehen soll, den Terror aus der Welt zu schaffen.

Außen-, Wirtschafts-, Sozial- und Entwicklungspolitik können keine terroristischen Organisationen bekämpfen. Dazu werden Polizei und Geheimdienste notwendig sein, vielleicht sogar punktuell Militär. Massive Unterstützung, Sympathie und letztlich Zulauf bekommen solche Organisationen aber nur, wenn sie proklamieren, gegen Zustände vorzugehen, die von vielen Menschen als ungerecht empfunden werden, und gegen jene, die dafür verantwortlich sind. So gesehen ist eine Terrorismusbekämpfung nur mit polizeilichen, geheimdienstlichen und militärischen Mitteln genauso hilflos wie der Versuch, Migrationsbewegungen dadurch zu verhindern, dass Grenzen geschlossen und „Illegale“ verhaftet werden. Wer das leugnet, verlangt den Unterdrückungsstaat.

Richtig ist, dass sich die USA bislang anders verhalten haben, als viele befürchteten. Schnelle Militärschläge hat es nicht gegeben, und das Wort „Vergeltung“ ist aus dem Sprachgebrauch der US-Regierung inzwischen glücklicherweise verschwunden – was übrigens durchaus auch ein Ergebnis davon sein kann, dass unmittelbar nach dem 11. September überall auf der Welt und in den USA friedensbewegte Menschen vor einer Eskalation gewarnt haben.

Was aber plant die US-Regierung nun eigentlich? „Die Amerikaner haben klar gemacht, dass es ihnen darum geht, ihre eigenen terroristischen Feinde zu verfolgen, nicht ihre terroristischen Freunde oder jene Terroristen, die Bevölkerungen außerhalb der amerikanischen Interessenssphären abschlachten“, schreibt Robert Fisk, einer der führenden britischen Nahost-Spezialisten, diese Woche im Independent, und weiter: „Wir werden nicht gebeten, an einem Kampf gegen den ‚Welt-Terrorismus‘ teilzunehmen, sondern an einem Kampf gegen die Feinde der USA.“

Die US-Politik hat in der Nachkriegszeit mehr Menschenleben gekostet als alle Terroranschläge der Welt zusammen, zuzüglich jener, die mit US-Unterstützung begangen wurden. Eine Friedensbewegung, die das nicht vergisst, ist weder gefühlsbetont noch antiamerikanisch – sie will nur nicht unhistorisch und oberflächlich sein. Dass die Organisationen des militanten politischen Islam eine Gefahr darstellen und bekämpft werden müssen, wird niemand leugnen. Wer darüber aber alles andere vergisst, der ist wirklich naiv. BERND PICKERT

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