piwik no script img

Querspalte

■ Wahl und Qual

Noch etwas dun im Kopf vom Hineinfeiern und – dem angewiderten Blick der Urnenbetreuerin nach – mit einer interessanten Fahnenmischung aus Zahnpasta, Corned Beef und Gran Duque d'Alba vom Vorabend bewege ich mich gestern, an meinem Geburtstag, Richtung Wahllokal. Ein Altenheim. Am Eingang begrüssen mich, begeistert von so viel Abwechslung, zwei rührende Greise wie einen alten Bekannten. Zwei Brandy für die Torwächter, suche ich mit glasigen Augen die Wirtin. Leider ist hier alles trocken. Beinahe erstaunt sieht der traurige Wahlleiter mich an. Ich bins nur, der steinerne Gast.

„Das sind die Schuhe von meinem Bruder. Sie kosten 300 Mark. Und sie stinken“, hatte der Ire am Nachbartisch gleich mehrmals krakeelt, bevor er – angezogen vom Freibier nach zwölf – in unserer Runde landete, aus den Tretern schlüpfte und sie auf den Tisch stellte. Er war stolz darauf, dass er Schuhe hatte. Und ich bin stolz darauf, dass ich es, wie immer, wieder geschafft habe: Ich gehe wählen.

Niemand ist verachtenswerter als der Nichtwähler. Der Herausreder. Der Garnichtsmehrwahrnehmer. Der Verdrückte. Fast so schlimm wie mein Geburtstagspickel, der auf der blassen Nase wunderbar rot leuchtet und so immerhin von den Augenringen ablenkt. Wie Waynes John hucke ich mit zwei heute falsch eingehängten Beinen quer durch den leeren Saal auf die Kabine zu. Mit zittrigen Händen mache ich mein Kreuz. Sitze auf dem wie immer kinderhorthohen Stühlchen. Die Namensliste ist nur noch Brei. Prompt poltert der Stift zu Boden. Einmal bücken und an das Wahlgeheimnis denken. Nie würde ich verraten, wen ich wähle: den Tiergartener Techno-Hasser. Eine Mischung aus Gesichtshecke, Öko-Vati und pedantischem Dünkel. Gran Duque, ist mir schlecht. Ich glaub, ich muss brechen. Wo ist die Urne? Michael Ringel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen