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Queerfeindliche GewaltDie Narbe eines Systems

Mitte August schlagen fremde Männer Nour wortwörtlich den Schädel ein – weil er queer ist. Trotz des Schmerzes kämpft er nun für Gerechtigkeit.

Die Narbe der Operation zieht sich quer über Nours Kopf Foto: Wolfgang Borrs

Berlin taz | Nour* hat alle 47 Tackernadeln aufbewahrt, die noch vor knapp drei Wochen in seinem Kopf steckten. An ihrer Stelle ist heute eine Narbe, die sich einmal quer über seinen gesamten Schädel zieht. „Hier ist alles tot“, sagt Nour und streicht mit den Fingern über seine kahl rasierten Haare, vom Nacken bis vor zur Stirn. „Ich habe gar kein Gefühl mehr im Kopf.“

Ende August ist Nour abends mit einem Freund am Mehringplatz unterwegs, in der Nähe der U-Bahn-Station Hallesches Tor. Etwa zehn Männer, die er vorher noch nie gesehen hat, bieten ihm Drogen an. „Nein, danke“, sagt Nour und läuft weiter. Einer der Männer verfolgt sie, Nour fragt, ob alles gut sei. Der Verfolger lächelt nur, geht zurück zu seiner Gruppe. Dann fangen die Beschimpfungen an: „Scheiß LGTB“, „Hurensöhne“, „Ihr Ficker“ und „Schwuchteln“, erzählt Nour.

Er läuft weiter, ohne zu reagieren. Zwei Männer verfolgen ihn auf dem Moped, bespucken ihn, fangen an zu treten, schlagen mitten in sein Gesicht. Nour ruft um Hilfe, schaut drei BVG-Securitys direkt in die Augen, doch die drehen sich einfach weg, erzählt er. An mehr kann er sich nicht mehr erinnern, denn er fällt in Ohnmacht. „Ich habe den Tod gesehen“, sagt der 30-Jährige. Der Angriff sei nicht nur Körperverletzung gewesen. „Das war ein Mordversuch.“

Seit zehn Jahren lebt Nour in Deutschland. 2015 ist er aus Syrien geflüchtet, wollte hier ein neues Leben anfangen, endlich frei von Vorurteilen und Anfeindungen sein. Er ist gelernter Krankenpfleger, arbeitet aktuell aber in der Kinderbetreuung in einer Grundschule und lächelt, wenn er darüber erzählt: „Ich bin so happy in meinem Job, das gibt mir so viel Energie.“ Er möchte den Kindern Liebe und Akzeptanz beibringen. Dinge, die er selbst früher nicht hatte.

Nour fragt sich noch immer, woher die Täter überhaupt wussten, dass er queer ist. „Wir hatten nichts Auffälliges, nur einen Ohrring“, sagt er. Manchmal hält er inne, muss sich kurz fangen.

Als er nach dem Angriff wieder zu sich kommt, wählt er den Notruf. Doch statt ins Krankenhaus kommt er erstmal auf die Polizeiwache. Vier Stunden lang. Bis es irgendwann nicht mehr geht. Sein Kopf schwillt immer weiter an, er kann seinen Kiefer nicht mehr bewegen. Doch bis Ärzte erkennen, dass sein Schädel wortwörtlich eingeschlagen wurde, dauert es noch Tage, bis zur Operation eine Woche.

Als er das alles erzählt, sitzt Nour auf einem grünen Sessel in seiner Wohnung, dem einzigen Ort, an dem er sich gerade sicher fühlt. Er möchte seinen Nachnamen nicht nennen, aus Angst, die Täter könnten sein Klingelschild finden.

Alles ist fein säuberlich aufgeräumt, es riecht angenehm süßlich. Auf dem Tisch stehen frische Blumen und Gebäck, über der Tür hängt eine Regenbogenflagge, der Fernseher spielt Gitarrenmusik. Ein Fahrrad an der Wand erinnert an Nours Leben vor der Gewalttat.

Lückenlose Aufklärung gefordert

Trotz der Schmerzen wendet sich Nour nach der OP an mehrere Organisationen wie den Gewaltschutzverein, er ruft sogar eine eigene Petition ins Leben. Sie trägt den Titel „Für ein sicheres, freies und vielfältiges Berlin“ und richtet sich an das Berliner Abgeordnetenhaus. Bisher haben knapp 1.500 Menschen unterschrieben. Nour fordert die lückenlose Aufklärung seines Falls, mehr Schutz und Aufklärung für queere Menschen im öffentlichen Raum und klare politische Signale. Berlin solle eine Stadt bleiben, in der Vielfalt nicht nur geduldet, sondern geschützt und gefördert wird.

„Sowas bringt mich nicht zum Aufgeben oder Schweigen. Nicht mehr“, sagt Nour über die Gewalttat. „Wenn ich jetzt schweige, dann werden die sich ein neues Opfer suchen, und das möchte ich nicht.“ Es geht ihm um Gerechtigkeit, und trotzdem hegt er keinen Groll gegen die Täter. Mehr noch: Er hat Mitleid.

Aber die Tat hat tiefe Spuren hinterlassen. Nour traut sich seit dem Vorfall nicht mehr alleine auf die Straße. Seine Freun­d:in­nen kaufen für ihn ein, begleiten ihn in Grüppchen zu Terminen. „Ich fahre nur noch Taxi, in die U-Bahn kann ich nicht mehr einsteigen. Ich habe Angst“, sagt Nour. Er zeigt eine kleine weiße Kugel, die er immer mit dabei hat. Wenn er den Stecker zieht, ertönt ein lauter Ton, zur Abschreckung. In seiner Wohnungstür steckt der Schlüssel von innen, er schließt immer sofort ab. Und er geht zur Psychotherapie, ist aktuell auf unbestimmte Zeit arbeitsunfähig.

Nours Fall macht gleich mehrere strukturelle Probleme in Berlin sichtbar. Erstens ist der Mehringplatz, an dem der Überfall stattfand, für Kriminalität bekannt. 2023 fielen dort tagsüber Schüsse, der rbb bezeichnete die Gegend im vergangenen Jahr deshalb als „Problemkiez“, der durch „Drogenhandel, Gewalt und Verwahrlosung zu einem Brennpunkt erhitzt“.

Zwar wird der Platz regelmäßig von Polizeikräften überwacht, wie die Berliner Polizei auf taz-Anfrage mitteilt, als „kriminalitätsbelasteter Ort“, kurz kbO, gilt er allerdings nicht. Derzeit gibt es in Berlin sieben kbOs, darunter der Alexanderplatz und die Rigaer Straße. Am Mehringplatz sind laut Polizei Betäubungsmitteldelikte, Jugend- und Jugendgruppengewalt, Raubdelikte sowie Einbruchstaten die größten Probleme.

Queerfeindliche Gewalt nimmt zu

Zweitens steigt die queerfeindliche Gewalt im gesamten Stadtgebiet. Im vergangenen Jahr dokumentierte die Fachstelle Maneo 738 Fälle und Hinweise mit LSBTIQ+-feindlichen Bezug. Das sind 8 Prozent mehr als im Vorjahr, die Dunkelziffer dürfte noch weitaus höher sein. Allein 165 Vorfälle ereigneten sich in der Öffentlichkeit. Maneo schreibt dazu: „Die Sichtbarkeit schwuler und bisexueller Männer, Lesben sowie Trans* und nicht-binärer Personen im öffentlichen Raum birgt ein hohes Risiko, allein deshalb beleidigt, gedemütigt oder körperlich angegriffen zu werden.“

Zwar sprach sich Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) im Bildungsausschuss zuletzt für queere Projekte aus. Nach aktuellem Stand sollen Projekte für queere Bildung von der Bildungsverwaltung allerdings im kommenden Haushalt nur noch ein Drittel der bisherigen Förderung bekommen.

Angesichts der vielen Kürzungen hatten die Grünen im September zu einem „Bildungsgipfel“ im Abgeordnetenhaus eingeladen. „Prävention und queere Bildung ist der erste Baustein gegen Queerfeindlichkeit“, sagt Sebastian Walter, Sprecher für Queerpolitik der Grünen-Fraktion. Doch genau dort wolle der Senat nun Gelder einsparen. Es sei auch völlig unklar, welche Projekte etwas bekommen sollten. Einige davon seien teils seit Jahrzehnten gefördert worden. „Das ist ein struktureller Kahlschlag“, so Walter.

Auch für Nour ist Bildung ein Herzensthema. Wegen seines Berufs und auch wegen des brutalen Angriffs auf ihn. Er ist empört über den Haushaltsplan der Senatsverwaltung. „Also … bitteschön“, Nour zeigt auf seine Narbe und will damit sagen: Das passiert, wenn man an queerer Bildung kürzt.

*Nachname ist der Redaktion bekannt

Wenn Sie selbst von queerer Gewalt betroffen sind, finden Sie auf maneo.de oder bei der TIN*-Antigewaltberatung unter 030/44 6688114 Hilfe.

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