Queere Orte in Berlin: Da fehlt was
Das queere Berlin hat seine Orte, an denen die Utopie schon probeweise gelebt wird. Pandemiebedingt sind sie geschlossen. Und gerade Nicht-Orte.
ber die Utopie lässt sich eigentlich nur negativ reden. Das sagte Adorno einmal. Ou tópos ist Griechisch für Nicht-Ort. Das Wort selbst ist also schon negativ. Adornos Gedanke trifft aber auch gut den jetzigen Moment. Denn, so sagte der Philosoph weiter, sich positiv auszumalen, „so und so wird das sein“, scheitere am bleibenden Widerspruch des Todes.
Krankheit und Tod sind omnipräsent gerade und haben schon viele Leben und Pläne durchkreuzt. Über die Utopie aber sollte trotzdem gesprochen werden, ihr soll fotografisch (wie das eben Emmanuele Contini tut) nachgegangen werden. Wenn auch „ex negativo“. Was fehlt, wo Utopisches schon gelebt wurde? Was fehlt, wenn die glitzernden queeren Orte in der Stadt leer sind und kalt?
Orte wie der Sonntags-Club im Prenzlauer Berg, seit DDR-Zeiten ein Stammtisch ohne blöde Sprüche und Ort der Selbsthilfe und Beratung. Oder das Neuköllner Silver Future, das die Utopie schon im Namen trägt.
![Paul Gräbner (links) und Sabine Holzmann am Tresen im Silver Future Paul Gräbner (links) und Sabine Holzmann am Tresen im Silver Future](https://taz.de/picture/4720674/14/silverfuture-3.jpeg)
Auf die Frage „Was fehlt?“ könnten Sabine Holzmann und Paul Gräbner, die Betreiber*innen der queer-feministischen Bar, schlicht sagen: Die Novemberhilfen, die noch nicht überwiesen wurden. Schon vor der Pandemie sei es schwierig geworden, die dramatisch steigende Miete in der Weserstraße zu erwirtschaften. Und nicht nur dort ist das so.
Minderheit in der Mehrheit
„Wir sind nicht die Ärmsten“, sagt Gräbner trotzdem und verweist auf andere Härten in der Stadtgesellschaft. In der Jugendsozialarbeit waren Holzmann und Gräbner tätig, bevor sie 2007 mit der Bar anfingen. Einen selbstbestimmten Arbeitsplatz wollten sie schaffen, eine Verlängerung ihres Wohnzimmers, in dem Platz wäre für Diskussionen genauso wie für Dragshows. Und: einen vor Queerfeindlichkeit, Sexismus und Rassismus sicheren Raum.
![Ulrich Simontowitz und Sebastian Pagel in der Berliner Traditionsbar Hafen Ulrich Simontowitz und Sebastian Pagel in der Berliner Traditionsbar Hafen](https://taz.de/picture/4720674/14/hafen-4.jpeg)
„Einen Raum, in dem die Minderheit in der Mehrheit ist“, so beschreibt LCavaliero Mann, der künstlerische Leiter des einige Straßen weiter gelegenen SchwuZ, dieses Anliegen.
![Lilo (rechts) und Pasqual samt Leiter im SO36 in der Berliner Oranienstraße Lilo (rechts) und Pasqual samt Leiter im SO36 in der Berliner Oranienstraße](https://taz.de/picture/4720674/14/so36-5.jpeg)
Wer einmal erlebt hat, wie aggressiv manche Leute werden können, wenn sie auf den zweiten Blick feststellen, dass sie sich in einen queeren Treffpunkt verirrt haben, weiß, wie notwendig und zugleich zerbrechlich solche Räume sind. Was LCavaliero Mann zufolge fehle, sei eine Perspektive für seine Mitarbeitenden und die Bühne für die vielen queeren Künstler*innen, die sonst im SchwuZ auftreten. Was fehle, sei gerade für junge Queers die Erholung von der Heteronormativität und den Anfeindungen des Alltags. „Sich gegenseitig zu sehen und festzustellen: queer sein ist toll.“
Erinnerungen werden wach an SchwuZ-Abende, an denen sich zu Madonna etwas internalisierter Selbsthass ausschwitzen ließ, an denen sich beim Tanzen Selbstzweifel abreiben konnten und an denen Flirts und Lernmomente über Klassen- und andere Grenzen hinweg möglich wurden. Erinnerungen auch an Carmela, die im SchwuZ regelmäßig zeigte, wie mensch sich im Rollstuhl die Tanzfläche zu eigen macht.
![Uwe Fischer am Tresen in Tom's Bar, Uwe Fischer am Tresen in Tom's Bar,](https://taz.de/picture/4720674/14/tomsbar-6.jpeg)
Eine Emanzipationsgeschichte
Erinnerungen an Emrah, wie sie im Südblock am Kotti von ihrer Flucht aus Turkmenistan berichtete und auf der Gayhane-Party im SO36 ihre Bauchtanz-Kunst zeigte, durch die sie sich eine kleine Existenz aufgebaut hat. Wie sehr die queeren Orte gerade jenen Menschen fehlen müssen, die im Alltag, bei ihren Familien nicht geoutet sind oder die in Sammelunterkünften leben müssen.
Den vielleicht einsamen Herzen, die zu Uwe Fischer (Tom’s Bar) oder Kevin Groß (Ficken 3000) an den Tresen kommen, fehlt die Möglichkeit, einen Abend lang nicht allein zu sein, und: im dunklen Keller jenseits von Sexarbeit und Dating-Apps unkomplizierten Sex zu haben. Ficken 3000, auch das ein utopischer Name.
„Vom Keller zur Kathedrale“, so fasst LCavaliero Mann die vielen Umzüge des SchwuZ seit 1977 zusammen. Von Schöneberg an die Hasenheide, vom Mehringdamm in die prächtige alte Kindl-Brauerei in der Rollbergstraße. Das ist auch eine Emanzipationsgeschichte.
Spenden als Hoffnung
Doch während in den christlichen Kathedralen selbst im Lockdown weiter Gottesdienste gefeiert werden dürfen, fallen für die Queers Gemeindeleben und bunte Liturgien flach. Und das auf eine noch nicht absehbare Zeit. Denn eine kurze, harte Zero-Covid-Strategie, die nicht allein der queeren Kultur- und Kleinwirtschaft zugutegekommen wäre, taten die Regierenden mit Verweis auf die „große“ Wirtschaft ab.
Es bleibt die in Tausenden Spenden aus der Community begründete Hoffnung, dass Sonntags- und KitKat-Club, dass Schmutziges Hobby, Möbel Olfe und Busche und möglichst viele der queeren Orte Berlins überleben. Dass Emmanuele Continis Fotos von einigen dieser Orte nicht zur Dokumentation des Verschwundenen werden.
![Mike Stolz in der Szenebar Zum Schmutzigen Hobby Mike Stolz in der Szenebar Zum Schmutzigen Hobby](https://taz.de/picture/4720674/14/zumschmutzigenhobby-8.jpeg)
Die finanzielle und sonstige Unterstützung der Community und der Abschiedsatz von LCavaliero Mann zeigen, dass die queere Gemeinde an ihren festen Adressen hängt, aber darüber hinausgeht, dass sie ein Nicht-nur-Ort ist: „Selbst wenn es zur Insolvenz kommen sollte, habe ich nicht die Sorge, dass es das Ende für uns wäre.“
Emmanuele Contini führt dieses Fotoprojekt weiter. Queere Orte in Berlin können den Fotografen unter emmanuele.contini@gmail.com kontaktieren.
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