Publizistin Sara Hassan über sexuelle Belästigung: „MeToo hat einiges verändert“
Sexuelle Belästigung beginnt subtil und fußt oft auf sozialer Ungleichheit. Die Publizistin Sara Hassan spricht über den Mythos der „Grauzone“.
taz: Frau Hassan, seit drei Jahren läuft die #MeToo-Debatte. Die einen sehen darin eine Chance, andere befürchten das Ende der sexuellen Freiheit. Das Narrativ „Alles ist verboten, jeder Flirtversuch ist gleich eine Belästigung“ hat sich bei Kritiker:innen durchgesetzt. Was entgegnen Sie darauf?
Sara Hassan: Es ist nicht schwer herauszufinden, was der Unterschied zwischen einem Flirt und Belästigung ist. Man sollte vorher fragen, ob die entsprechende Person etwas möchte oder nicht. So einfach lässt sich Konsens herausfinden. Die Aussage, dass es schwer wäre zu unterscheiden, gibt allein die Täterperspektive wieder. Von einer Grauzone kann man also nur sprechen, wenn man die Perspektive der Betroffenen ignoriert – und das wurde lange gemacht.
Wenn mir mein Vorgesetzter ein Kompliment für mein Outfit macht, dann kann ich mich darüber freuen oder es als übergriffig empfinden, dass mein Aussehen am Arbeitsplatz kommentiert wird. Ist das nicht eine klassische Grauzone?
Auch diese Grauzone löst sich auf, wenn man guckt, wie die Adressierte sich aus dieser Situation befreien kann. Kann eine Angestellte zu ihrem Chef sagen, dass sie nicht möchte, dass ihr Aussehen kommentiert wird, ohne negative Konsequenzen zu spüren? Das ist nicht nur abhängig vom Chef, sondern auch vom Umfeld.
Überall geht es um Macht und um die soziale Position: Arbeite ich beispielsweise als Praktikantin in einem Büro mit starren Hierarchien, in dem ein großer Wettbewerb herrscht und Angestellte gegeneinander ausgespielt werden? Ein solches Umfeld lässt es nicht zu, dass man solche Kommentare zurückweist. Das Umfeld ist eine wichtige Kategorie, um herauszufinden, ob es sich um Missbrauch handelt. Deswegen haben wir es als Red Flag, also als Warnhinweis, markiert.
Jahrgang 1992, arbeitete ab 2015 als politische Referentin im EU-Parlament. Heute lebt sie als Podcasterin, Publizistin und Moderatorin in Brüssel und Wien.
Wie sind diese Red Flags entstanden?
Als ich 2015 angefangen habe, im EU-Parlament in Brüssel zu arbeiten, waren in meinen ersten Wochen meine Kolleginnen und ich vielen Übergriffen ausgesetzt. Doch sie wurden als vollkommen normal abgetan. Gemeinsam haben wir dann beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen, und haben das feministische Netzwerk „Period.“ gegründet. Dort haben wir in zahlreichen Gesprächen mit Frauen Erfahrungen ausgetauscht und Strategien erprobt, wie man sich gegen Belästigung zur Wehr setzen kann.
Also zwei Jahre vor #MeToo.
Ja, genau. 2017 haben wir dann gemerkt, dass unsere Erfahrungen kein Brüssel-Spezifikum sind, sondern leider globale Wirklichkeit ist. Wir haben angefangen, die Erfahrungsberichte auf Regelmäßigkeiten hin zu untersuchen, und gemerkt, dass die Geschichten immer den gleichen Mustern folgen. Belästigung beginnt meistens schleichend und bleibt für die Öffentlichkeit lange unsichtbar. Um sie frühzeitig zu erkennen, haben meine Co-Autorin Juliette Sanchez-Lambert und ich dann ein Warnsystem mit vier Kategorien entwickelt.
Welche drei Kategorien haben Sie neben dem Umfeld noch ausgemacht?
Eines haben wir unter dem „Netter Kerl“-Syndrom zusammengefasst. Menschen, wie ein geschätzter Politiker oder ein beliebter Freund, werden zu Idolen erkoren. Werden Vorwürfe gegen sie erhoben, mündet das im Umfeld meist in einem Verteidigungsreflex: „Nein, für diese Person würde ich meine Hand ins Feuer legen.“ Menschen, die in der Mitte der Gesellschaft stehen, werden häufig von ihrem Umfeld gedeckt, während Marginalisierte viel häufiger angezweifelt werden. Es geht also darum: Wem glauben wir und wem nicht. Die dritte Kategorie sind klassische Strategien von Tätern.
„Grauzonen gibt es nicht“, Sara Hassan und Juliette Sanchez-Lambert, ÖGB Verlag, 96 S., 10 Euro
Wie sehen solche Strategien aus?
Ein Beispiel ist das Podest. Dabei wird eine einzelne Person zuerst glorifiziert. Das erleben viele, wenn sie einen neuen Job beginnen und dann erst mal überschwänglich für ihre Arbeit gelobt werden. Doch aus dem Nichts heraus werden sie dann von den Tätern vom Podest gerissen und nichts von dem, was sie tun, ist mehr richtig. Das wirkt für Betroffene destabilisierend und erzeugt emotionale Abhängigkeit, über die sie deutlich leichter kontrolliert und manipuliert werden.
Und die vierte Kategorie?
Da geht es um die Reaktionen der Betroffenen. Wenn wir Belästigung erfahren, versuchen wir uns das meist erst mal auszureden. So was wie „Das hat er sicher nicht so gemeint“ oder „Alle anderen haben es als Scherz wahrgenommen“. Aber auch ein schlechtes Bauchgefühl, ein Erstarren oder das Zurückbleiben eines brennenden Gefühls, wenn man unwillentlich angefasst wurde, können Indikatoren für ein belästigendes Verhalten sein. Wir können auch an unserem eigenen Verhalten ablesen, was Grenzüberschreitungen sind.
Sollte ich als potenziell Betroffene die Red Flags auswendig lernen?
Nein, es geht nicht darum, dass man alle Muster und Kategorien ständig im Kopf haben muss, sondern darum zu verstehen, welche Verhaltensweisen vorkommen können und welche System haben. Sobald man weiß, wie Belästigung anfängt und abläuft, hilft es uns, damit besser umzugehen. Mit dem Red-Flag-System sollen Betroffene missbräuchliche von normalen Situationen unterscheiden können.
Das ständige Aufpassen und Analysieren hört sich trotz allem nach viel Arbeit an. Ist es fair, dass die Betroffenen diese übernehmen müssen?
Natürlich ist es ungerecht, wie viel emotionale und Bildungsarbeit Betroffene leisten müssen. Doch angesichts der Strukturen, in die wir alle verstrickt sind, können wir leider nicht davon ausgehen, dass Personen in Machtpositionen sich dazu bequemen, ihre Ressourcen bereitwillig umzuverteilen. Unser Buch soll für Betroffene eine Orientierungshilfe und Stütze sein; und die vermeintlich Unbeteiligten wollen wir aufrütteln.
Wenn ich als Unbeteiligte in einer Interaktion zwischen zwei Menschen Red Flags erkenne, sollte ich mich dann einmischen, selbst wenn beide Beteiligten die Situation als vollkommen okay empfinden?
Es wäre paternalistisch, jemandem einreden zu wollen, dass er oder sie gerade Belästigung erfährt. Doch wir müssen davon ausgehen, dass sexualisierte Momente in unserer Gesellschaft so normalisiert sind, dass viele bestimmte Handlungen gar nicht mehr problematisieren. Mit einer „Das ist halt sein Humor“-Haltung reden sie sich ein, dass kein übergriffiges Verhalten stattgefunden hat.
Weggucken ist falsch, aber man will sich ja auch nicht aufdrängen. Was also tun?
Ich würde in solchen Momenten dazu raten, dass man in Kontakt bleibt und signalisiert, dass man die Situation nicht in Ordnung findet. Denn wir wissen aus unseren Gesprächen, dass eine Einordnung von außen für die Betroffenen extrem wichtig ist. Gerade, weil Täter den Übergriff häufig als Missverständnis framen wollen oder der Betroffenen einreden, sie habe sich selbst bereitwillig in die Situation gebracht.
Wir haben jetzt viel über Beispiele am Arbeitsplatz gesprochen. Ein Großteil von Missbrauch und sexualisierter Gewalt findet jedoch in (Ex-)Partnerschaften statt. Kann ich das Red-Flag-System auch dort anwenden?
Wir haben unseren Schwerpunkt auf den Arbeitskontext, Uni und Schule gelegt, im Bereich sexualisierte Gewalt in Partnerschaftsbeziehungen bin ich keine Expertin. Doch viele Red Flags, die wir anführen, können auf unterschiedliche Situationen angewendet werden. Also: Stehe ich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dieser Person? Kontrolliert sie mich? Fehlen mir Unterstützungsnetzwerke? Diese Fragen können in sehr vielen alltäglichen Situationen ein gutes erstes Frühwarnsystem sein.
Belästigung erkennen, anzusprechen und die Menschen dazu bringen, Konsens zu erfragen. Sind wir am Ziel, wenn das erreicht ist?
Es wäre schön, wenn es in ganz vielen Situationen normalisiert wäre, nach einem Konsens zu fragen. Aber das reicht nicht aus. Die meisten Missbrauchsvorfälle sind auf soziale Ungleichheit zurückzuführen. Menschen werden marginalisiert, prekarisiert, in unsichere Arbeitsverhältnisse gedrängt oder aufgrund von Klasse, race oder Gender unglaubwürdig gemacht. Wenn wir also wirklich etwas ändern wollen, müssen wir an Ungleichheits- und Machtstrukturen ansetzen.
Sind wir auf einem guten Weg dahin?
Auch wenn es manchmal nicht danach aussieht, muss ich das glauben, um weitermachen zu können. Mir ist aber auch klar, dass Fortschritt nicht immer linear ist. Ich glaube, es ist ein großer Wandel im Gange. Doch die Frage ist natürlich immer, wie die Gesamtgesellschaft darauf reagiert. #MeToo hat schon einiges verändert, aber darauf dürfen wir uns nicht ausruhen. Wir müssen es uns häufiger unbequem machen, und unsere eigenen Positionen und Privilegien hinterfragen. Also auch für andere Menschen etwas riskieren, sonst verändert sich nichts.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich