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Psychische Erkrankungen in der PandemieDie große gesellschaftliche Lücke

Psychische Gesundheit hängt stark mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen zusammen. Dort anzusetzen, sollte Priorität der nächsten Regierung sein.

Isolation und Ungewissheit sorgen während der Pandemie für eine erhöhte psychische Belastung Foto: Tobias Seeliger/snapshot/imago

S elbst für viele, die das Thema vorher nicht betroffen hat, sorgt die Pandemie für eine erhöhte psychische Belastung. Fehlende Routinen, Kontaktbeschränkungen, Isolation und Ungewissheit verstärkten ein Gefühl von Unsicherheit. Hinzu kommt die ständige Sorge um die körperliche Gesundheit.

Eine Umfrage der Deutschen Psychotherapeutischen Vereinigung ergab, dass die Nachfrage nach psychotherapeutischer Unterstützung zwischen Januar 2020 und Januar 2021 um 40 Prozent stieg. Natürlich braucht nicht je­de*r gleich eine jahrelange Therapie – vielen hilft bereits ein kostenloses Erstgespräch mit ei­ner Person vom Fach. Dieselbe Umfrage ergab aber, dass nur je­de*r Vierte einen Termin für ein solches erhielt.

Hinzu kommt, dass nicht nur psychische Gesundheit und Therapie noch stigmatisiert sind, sondern auch der Zugang zu Behandlungsangeboten nicht niedrigschwellig ist. Er wird durch den belasteten Zustand an sich erschwert, aber auch durch bürokratische Hürden. Mangelnde Sprachkenntnisse oder ein niedriger Bildungsstand können ebenso Barrieren sein, genauso wie prekäre Arbeitsverhältnisse, deren Unsicherheiten psychische Erkrankungen wiederum fördern.

Dass Gesundheit auch ein Politikum ist, wissen wir nicht erst, aber vor allem seit Corona. Warum sollte das nur für die physische und nicht für die mentale Gesundheit gelten? Zeit, sich anzusehen, was die Parteien vor der Bundestagswahl zu dem Thema sagen:

Was sagen die Parteien?

Die AfD macht dazu überhaupt keine Angaben – auch Redaktionsanfragen blieben unbeantwortet. Die Union beschränkt sich auf den Ausbau des psychotherapeutischen Angebots. Der ist zwar wichtig, genügt allein aber nicht. Linke, Grüne, SPD und FDP wollen zusätzlich zur Erweiterung des therapeutischen Angebots mit Aufklärungskampagnen und Bildungsarbeit für eine Entstigmatisierung sorgen.

Mit Präventionsmaßnahmen wollen alle vier außerdem die Vorsorge verbessern. Während sich die FDP nur dafür ausspricht, bestehende Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen, werden SPD, Linke und Grüne konkreter. Die SPD plant eine finanzielle Förderung von Unterstützungs- und Selbsthilfeangeboten an Schulen und Ausbildungsstätten. Früh bei der Aufklärung anzufangen, ist elementar; laut der Krankenversicherung KKH steigt die Zahl psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher seit 2009 stetig.

Große gesellschaftliche Lücke

Auch Grüne und Linke legen ihren Fokus auf Hilfsangebote an Schulen, sprechen sich aber zusätzlich für Vorsorge am Arbeitsplatz aus. Betont wird von beiden zudem ein niedrigschwelliger Zugang, besonders für marginalisierte Gruppen – etwas, das bisher durch erwähnte Bildungs- und Sprachbarrieren zu wenig berücksichtigt wurde. Die Linke geht noch einen wichtigen Schritt weiter und erkennt an, dass (psychische) Gesundheit stark mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen zusammenhängt. Deshalb wollen sie eine Anti-Stress-Verordnung am Arbeitsplatz einführen, plädieren unter anderem für höhere Löhne und mehr Urlaub sowie einen besseren Arbeitsschutz für alle.

Gerade die Pandemie hat verdeutlicht, wie groß die gesellschaftliche Lücke in Sachen Lebens- und Arbeitsbedingungen ist. Dort anzusetzen, auch um psychischen Erkrankungen vorzubeugen, sollte oberste Priorität der kommenden Regierung sein.

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Sophia Zessnik
Redakteurin für Theater
Sophia Zessnik ist seit 2019 bei der taz und arbeitet in den Bereichen Kultur und Social Media. Sie schreibt am liebsten über Alltägliches, toxische Männlichkeit und Menschen im Allgemeinen. In ihrer Kolumne „Great Depression“ beschäftigt sie sich außerdem mit dem Thema psychische Gesundheit.
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3 Kommentare

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  • 3G
    32533 (Profil gelöscht)

    "Das Sein bestimmt das Bewusstsein" wusste schon der olle Marx. Seitdem hat sich an dieser Erkenntnis nichts geändert.

    Ich korrigiere mich. Doch - hat sich.

    Erstens: die Erscheinungsformen bestimmter Sachverhalte sind veränderte.



    Zweitens: die Abwehrmechanismen mancher Menschen ebenso.

    Die Quantität pyschotherapeutischer Angebote sagt nichts über deren Qualität aus. Noch nicht mal über deren räumliche Verbreitung.

    In bestimmten urbanen Regionen (Ballungszentren, Unistädte, Kurorte) ist die Versorgung quantitativ ausreichend bis gut, im ländlichen Raum häufig nicht.

    Aus der Luft mag dies anders aussehen als am Boden.

  • Ja wer hätte denn ahnen können, dass monatelange Isolation sich auf die Psyche niederschlägt? Und es ist ja auch nicht so, dass schon vorher der psychotherapeutischen Möglichkeiten zu wenig gewesen sind.

    • @Luftfahrer:

      Das dürfte man schon gehant/gewusst haben, aber man konnte eben auch abschätzen wie vielen Tote es bedeuten würde auf die Isolation zu verzichten. Der Lockdown dürfte einigen Hunderttausend Menschen im Land das Leben gerettet haben.