Psychiater über trans* Kinder: „Raum für verwirrende Gefühle“
Martin Fuchs berät Kinder und Jugendliche, die sich in ihrem Geschlecht nicht wohlfühlen. Er plädiert dafür, Unsicherheiten zuzulassen.
taz: Herr Dr. Fuchs, kennen Sie Joe Maldonado?
Martin Fuchs: Ja, den Fall kenne ich schon, aber nur aus den Medien.
Joe hat sich in den USA im Februar erstritten, dass er bei den Pfadfindern mitmachen darf. Er ist acht und ein trans* Junge. Sie beraten Jugendliche und Kinder wie ihn, die sich in ihrem Geschlecht nicht wohlfühlen. Ermutigen Sie sie, wie Joe im empfundenen Geschlecht zu leben?
Das kommt auf die Umgebung an. Niemand muss sich in der ersten Klasse outen und aller Welt verkünden: „Ich bin jetzt ein Junge“ oder „Ab heute lebe ich als Mädchen“. Ich empfehle Familien auch nicht, ihr Kind auf eine andere Schule zu schicken oder in eine andere Stadt zu ziehen, nur damit der Rollenwechsel möglich wird. Kinder können ja auch mal experimentieren, vielleicht nur im Familienkreis. Zwar hat eine kleine Studie kürzlich gezeigt, dass ein kompletter Rollenwechsel im alten Umfeld guttun kann. Aber ich ermutige zu schauen: Was ist möglich? Was ist hilfreich?
Die meisten Eltern machen sich keine Gedanken, wenn ihr Sohn mal mit Puppen spielt. Ab welchem Punkt sollte eine Familie Ihre Spezialsprechstunde aufsuchen?
Sobald ein Leidensdruck da ist. Den bemerken die Eltern, wenn das Kind sich zurückzieht oder einen Spannungszustand somatisiert. Das bedeutet, dass Angst über den Körper zum Ausdruck gebracht wird. Zum Beispiel als Kopfweh oder Bauchweh. Oft berichten Lehrer, dass die Schülerin oder der Schüler sich nicht mehr konzentrieren kann. Eltern sollten Hilfe suchen, wenn sie den Verdacht haben, dass eine Geschlechtsdysphorie hinter den Problemen steckt. Das heißt: Das Geschlecht, das gesellschaftlich zuerkannt wurde, passt nicht mit dem Gender, also dem gefühlten Geschlecht, zusammen.
Kinder bilden sich viel ein. Wie früh kann ein Kind wissen, dass es ein Junge oder ein Mädchen ist?
Das Kind muss das nicht wissen. Das Kind muss auch keine verlässlichen Angaben machen. Wir dürfen auf keinen Fall Druck aufbauen mit Fragen wie „Bist du dir wirklich sicher?“ und so weiter. Wenn ein Kind verwirrende Gefühle hat, braucht es einen Raum, um darüber zu sprechen. Dafür vermitteln wir spezielle Psychotherapien. Die ermöglichen jungen Patientinnen und Patienten, Unsicherheit zu reflektieren und zum Ausdruck zu bringen.
42, leitet als Oberarzt die Ambulanz an der Innsbrucker Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit drei Jahren bietet die Klinik eine interdisziplinäre Spezialsprechstunde für trans* Kinder und Jugendliche an. Die Erfahrungen aus der Sprechstunde beschreibt Fuchs unter anderem in einem Artikel in der Fachzeitschrift Gynäkologische Endokrinologie.
Sitzen da Kleinkinder eine Stunde pro Woche in der Praxis und sprechen über ihre Gefühlswelt?
So sieht die Therapie natürlich nicht aus. Je kleiner der Patient oder die Patientin, umso mehr weichen wir auf nonverbale Methoden aus. Therapeuten arbeiten mit Handpuppen und Symbolen, machen mit den Kleinen Spiele und malen.
Und dann wird analysiert, ob das Kind lieber mit Rosa malt oder mit Blau?
Nein, darum geht es gar nicht. Den 16-Jährigen würde ich zum Beispiel fragen: „Wie war’s jetzt in der Turnstunde? Passt das mittlerweile, dass du mit den Jungs mitturnst?“. Und über seine Antwort würden wir eine Stunde lang reden. Jüngere wollen und können das noch nicht so ausdrücken. Die mögen lieber in einer Sandkiste mit Figuren nachstellen, was los ist. Oder sie zeichnen auf, ob die Situation neulich beim Spielen fein oder blöd war.
Unter Kindern, die an Langzeitstudien teilgenommen haben, arrangierten sich mehr als zwei Drittel später doch mit ihrem biologischen Geschlecht.
Es stimmt zwar, dass dieser Transitionswunsch bei den meisten weggeht. Aber vorher leiden die Kleinen ja trotzdem. Dem muss man akut auf den Grund gehen. Und dann unaufgeregt und in Ruhe abwarten, wie sich die Gefühle nach Einsetzen der Pubertät entwickeln.
Wenn die Gefühle bleiben, verschreiben Sie pubertätshemmende Medikamente. Warum?
Das machen wir, um Zeit zu gewinnen. Die meisten Betroffenen kommen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren zum ersten Mal zu uns. Wir ermöglichen ihnen mit der Medikation, sich in ihrem Gender auszuprobieren, während wir diagnostisch und therapeutisch genau hinsehen. Das Aufhalten der Pubertät können wir jederzeit rückgängig machen, wir haben also eine Art Notausstieg. Ungefähr ab dem 16. Lebensjahr kann die Therapie mit gegengeschlechtlichen Hormonen beginnen.
Hat diese Therapie keine Nebenwirkungen?
Alle Therapien haben Nebenwirkungen. Bei den trans* Jungs ist es zum Beispiel so, dass die Blockade der körpereigenen weiblichen Sexualhormone etwas auslöst, das an die Wechseljahre erinnert. Das heißt, die Jungs haben Schweißausbrüche, Hitzewallungen oder Stimmungsschwankungen. Knochendichte kann ein Thema sein. Und die Medikamente können auch das Wachstum in der Körpergröße hemmen. Wir arbeiten hier mit einem Spezialisten der Kinderklinik zusammen, der das anhand des Knochenalters und der Wachstumsfugen sehr gut einschätzen kann. Es gibt aber Langzeitdaten über zwei Jahrzehnte, die sprechen dafür, dass die Medikamente langfristig nicht schädigen.
Ist das nicht eine Steilvorlage für Mobbing, wenn ein Teenager keine körperliche Veränderung durchmacht?
Wir können uns kaum vorstellen, was für eine quälende Situation die Alternative ist. Trans* Jungs wünschen sich zum Beispiel verzweifelt, dass die Monatsblutung aufhört. Natürlich ist das schwierig, sozusagen stehen zu bleiben, während alle anderen sich weiterentwickeln. Aber die Therapie ist ja nicht dauerhaft, sondern eine Zwischenlösung.
Die meisten Pubertierenden fühlen sich in ihrem Körper unwohl.
Ja, stimmt. Aber Geschlechtsdysphorie geht über dieses Unwohlsein hinaus. Einige Jugendliche haben schon Psychiatrie-Aufenthalte hinter sich, verletzen sich selbst oder haben suizidale Phasen, bevor sie zu uns kommen. Eine 13-Jährige kam zum Beispiel mit einer schweren Magersucht in unsere Klinik. Das war, noch bevor wir die Spezialsprechstunde eingerichtet haben. Während wir die Essstörung behandelten, erkannten wir erst, dass eine Geschlechtsdysphorie dahintersteckte. Die Patientin kam mit den körperlichen Veränderungen nicht klar und hat das durch Abmagern zu lösen versucht. Nach der akuten Behandlung der Magersucht haben wir uns um den Transitionswunsch gekümmert. Vor Kurzem kam der Patient zur Kontrolluntersuchung: Er ist jetzt ein gesunder junger Mann, hält seit Jahren sein Gewicht und lebt neuerdings offiziell mit männlichem Vornamen.
Das heißt, die Betroffenen und ihre Familien können jahrelang selbst nicht wissen, was los ist. Wie häufig ist das?
Das wird immer seltener. Ich begrüße den öffentlichen Diskurs sehr. Ich glaube, je normaler es den Menschen vorkommt, dass sich Gender und Zuweisungsgeschlecht unterscheiden können, desto unaufgeregter und besser für die Kinder ist der Umgang. Auch innerhalb der Familien ist das so. Wissen Sie, ich lebe im Bundesland Tirol in Österreich. Das Land war jahrzehntelang von einer katholischen Regierung und von katholischen Diskursen geprägt. Aber auch hier kommen bürgerliche Familien aus ländlichen Gegenden zu uns in die Sprechstunde.
Kann es passieren, dass Eltern hinter der Geschlechtsdysphorie stecken? Weil sie sich zum Beispiel immer einen Jungen gewünscht haben, und dann ist es ein Mädchen geworden?
Das ist mir noch nie untergekommen. Was wir manchmal erleben, sind Eltern, die sehr genaue Vorstellungen über Therapie und Rollenwechsel haben. Die können dann zu fordernd sein und dem Kind nicht genug Zeit geben. Ich glaube, das ist der Wunsch nach einer schnellen Lösung. Die Eltern wollen, dass es dem Sohn oder der Tochter schnell besser geht. Das ist natürlich einfacher, als sich auf drei oder vier Jahre einzustellen, in denen alles drunter und drüber geht.
Welche Rolle spielen Medien bei den Teenagern, die in Ihre Sprechstunde kommen?
Eine sehr große! Die sind perfekt vernetzt und perfekt informiert. Die nutzen für sich, dass es eine riesige Trans-Infrastruktur im Internet gibt.
Normalerweise mögen Ärzte es nicht, wenn Patienten Symptome googeln und mit einer eigenen Diagnose ankommen.
Ich habe damit kein Problem. Es ist schön, wenn die Jugendlichen schon eine gewisse Sicherheit haben, welchen Weg sie gehen möchten. Ich finde, in dieser Angelegenheit können junge Leute ruhig Spezialisten in eigener Sache sein.
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