Prozessende nach Morden im Oberlinhaus: Angehörige bekommen keine Antwort
Nach den Morden an vier Menschen mit Behinderung, erhält Pflegerin Ines R. 15 Jahre Freiheitsstrafe. Sie kannte die Opfer teils aus Kindertagen.
Vier Menschen mit schwerer Behinderung verloren hier ihr Leben. Martina W. starb im Alter von 31 Jahren. Christian S. war 38 Jahre alt. Lucille H. wurde 43 und Andreas K. 56 Jahre alt. Eine weitere Bewohnerin, die 43-jährige Elke T., überlebte den Angriff mit einem Messer schwer verletzt.
Am Mittwoch hat das Landgericht Potsdam die langjährige Pflegerin Ines R. für die Tat zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Das Gericht legte die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik fest. Der Vorsitzende Richter Theodor Horstkötter sieht es als bewiesen an, dass R. des vierfachen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes sowie der Misshandlung von Schutzbefohlenen schuldig ist. Wäre R. an dem Tag nicht zur Arbeit gegangen, sondern zum Arzt, könnten die Opfer noch leben und wären nicht „auf so grausame Weise ums Leben gekommen“, so Horstkötter. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Noch am Tatabend wurde R. bei sich zu Hause festgenommen. Sie soll zunächst zwei Menschen gewürgt haben, dann habe sie ein Messer geholt. Gegenüber ihrem Mann äußerte sie im verwirrten Zustand: „Ich habe vier Menschen die Kehle durchgeschnitten.“ Er alarmierte zunächst die Arbeitskollegin seiner Frau, dann die Polizei und den Notruf.
Menschen mit Behinderung kamen kaum zu Wort
Sätze, wie dieser der Angeklagten, bedeuten für Boulevardmedien geeignete Schlagzeilen. Schon am Tag nach der Tat spekulierten vor allem Boulevardmedien über Tathintergründe. Aktivist*innen für Inklusion kritisierten weite Teile der Berichterstattung als ableistisch. Statt auf strukturelle Problem von Gewalt in Pflegeeinrichtungen einzugehen, sagt ein Polizeipsychologe vor laufender Kamera, dass ein Motiv gewesen sein könnte, „die Leute von Leiden zu erlösen, die vielleicht sogar unheilbar sind“. Bewohner*innen des Oberlinhauses und Menschen mit Behinderung kamen kaum oder gar nicht zu Wort.
Dass es auch in dem Mordprozess vor dem Landgericht Potsdam vor allem um die Verurteilte ging, liegt in der Natur der Sache. Bewohner*innen des Oberlinhauses wurden in den zehn Verhandlungstagen nicht als Zeug*innen gehört. Eine Nachfrage dazu wurde vom Gericht bislang nicht beantwortet.
Das Oberlinhaus lehnte einen Besuch auf der Station mit dem Verweis ab, dass die Prozesstage für alle Beteiligten sehr aufwühlend seien. Der Träger ist ein eigenständiger diakonischer Anbieter. Im Wohnbereich 3 des Thusnelda-von-Saldern-Hauses, dem früheren Arbeitsbereich von Ines R., lebten 20 Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderung. R. arbeitete fast 30 Jahre lang in der Pflege. Die Menschen, die sie ermordete, kannte sie alle jahrelang, teilweise seit deren Kindheit.
Auch Christian S, dessen Eltern in dem Prozess als Nebenkläger*innen auftraten. Immer wieder saßen sie der Mörderin ihres Sohnes im Landgericht gegenüber. Eine Antwort, warum ihnen ihr Sohn genommen wurde, haben die Eltern nicht erwartet, sagte Beatrice Vossberg, die Nebenklageanwältin. Die Eltern hätten sich durch ihre Klage vor allem Zugang zu Informationen versprochen und wollten dem Prozess auch beiwohnen, um ihre Trauer zu bewältigen.
Die Pflegerin Ines R. kannten sie zuvor nur als eine „fürsorgliche und mütterliche“ Person. Vor Gericht sagte seine Mutter Karin S. aus, dass sie immer froh war, wenn R. ihren Sohn pflegte. Der 1985 geborene Christian S. kam als Frühgeburt zur Welt und erlitt als Folge einen Hirnschaden. Seine Eltern pflegten ihn 17 Jahre lang, dann zog er ins Oberlinhaus. An den Wochenenden holten sie ihn nach Hause, pflegten ihn auch. Den Eltern sei klar gewesen, dass eine Pflegeeinrichtung nicht die Zeit und Fürsorge aufwenden könne, die ihr Sohn brauche, so Vossberg. Als „Sonnenschein der Familie“ beschreibt ihn seine Mutter im Gericht: „Er war fast immer gut drauf.“
Auch Martina W. lebte seit ihrer Jugend im Oberlinhaus. Die junge Frau, die nur 31 Jahre alt wurde, hatte eine frühkindliche Hirnschädigung und wuchs bei ihrer Großmutter auf. Bei ihr lief immer der Fernseher, denn sie mochte das Flimmern, erzählte ihr Onkel Falko W. im Gericht. In den letzten Jahren hätte sich der Zustand in der Einrichtung verschlechtert, sagte W. Schon vor der Pandemie hätte er seine Nichte bei Besuchen nicht mehr im Rollstuhl, sondern nur noch im Bett angetroffen.
Lucille H. lebte nach einem schweren Autounfall 2013 im Oberlinhaus. Über sie erfuhr man, dass sie Fan der Toten Hosen war, eine gute CD-Sammlung hatte und es mochte, wenn ihr jemand vorlas. Sie hinterlässt zwei Kinder.
Andreas K. konnte, wie die anderen Opfer auch, nur durch kleine Gesten kommunizieren, etwa Daumen hoch oder runter. Er wurde 1964 geboren und hatte von Geburt an eine kognitive Behinderung. Nach einem Hirninfarkt 2016 war er stark körperlich eingeschränkt und lebte seitdem im Oberlinhaus. Laut einem Betreuer hörte er gerne Schlager. Seine Schwester erzählte vor Gericht, dass sie bei ihren Besuchen immer seltener mit ihrem Bruder rausgehen konnte, da er wegen Personalmangels nicht vorbereitet wurde.
Arbeitsbelastung erkläre nicht die Tat
Der Vorsitzende Richter Theodor Horstkötter führte ruhig und sensibel durch den Prozess. Er nahm sich viel Zeit für alle Zeug*innen. Auch die Nebenklageanwältin bewertete die Prozessführung als sensibel. Ihrer Meinung nach sei allerdings der Darstellung der Arbeitsbelastung zu viel Raum gegeben worden. So könne der Eindruck erweckt werden, als trage der Arbeitgeber eine Mitschuld an der Tat: „Das ist strafrechtlich nicht möglich.“
Tatsächlich sprachen mehrere Mitarbeiter*innen vor Gericht von einer hohen Arbeitsbelastung. Auch Staatsanwältin Maria Stiller sagte in ihrem Plädoyer, dass der Prozess ein Schlaglicht auf die Situation in der Pflege werfe – auch wenn das keine Erklärung für die Taten sei, so Stiller: „Es ist keine selbsterfüllende Prophezeiung, dass man fünf Menschen angreift, die nichts für die Überlastung der Pflegerin können.“
Auch andere Pflegerinnen berichteten von Unterbesetzung, Personalfluktuation und Überlastungsanzeigen. Eine ehemalige Betreuungsfachkraft nannte die Belastungssituation „eine Katastrophe“. Teilweise sei für 10 Menschen mit hohem Pflegegrad nur eine Person zuständig gewesen: „Ich habe gekündigt, weil ich das mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte.“ Corona habe die Situation noch verschärft. Nach der Gewalttat sei die Personalsituation durch Leasingkräfte verbessert worden.
Die verurteilte Pflegerin Ines R. hat sich am ersten Verhandlungstag umfassend geäußert. Pflege sei ihre Berufung gewesen, doch die Situation sei immer belastender geworden. Auch ihr Ehemann sprach von einer akuten Belastungssituation seiner Frau kurz vor der Tat. Angebote, in eine weniger fordernde Arbeit zu wechseln, habe Ines R. aber aus finanziellen Gründen abgelehnt, sagte ihre ehemalige Chefin.
Ein Erinnerungsort ist geplant
Nach Zeugenaussagen gibt es keine Hinweise darauf, dass Ines R. schon zuvor gewalttätig gegen Menschen mit Behinderung gewesen ist. Ihrer langjährigen Therapeutin vertraute sie aber an, dass sie Gewaltfantasien bezüglich Bewohner*innen hege, die sie selbst als „schrecklich, nicht normal“, bewertet hätte. Die Psychoanalytikerin habe allerdings eine klare Unterscheidung zwischen Fantasie und Realität ausmachen können und sagte, dass R. auch oft positiv von ihrer Arbeit gesprochen habe.
Am neunten Prozesstag kam demgegenüber zur Sprache, dass R. eine Woche vor der Gewalttat versucht haben soll, eine Bewohnerin zu vergiften. Eine psychologische Gutachterin diagnostizierte bei R. eine Borderline-Erkrankung. Außerdem läge bei Ines R. ein missbräuchlicher Konsum von Alkohol und Medikamenten vor.
In ihrer Aussage am ersten Prozesstag hatte Ines R. nicht über den Mord an den vier Menschen gesprochen. Ausführlich erzählte sie aber von ihrer Kindheit und mehreren Schicksalsschläge. Schon als Kind war sie suizidal, hatte ein schlechtes Verhältnis zu ihrer Mutter und wurde aufgrund ihrer psychischen Probleme stationär in der Charité behandelt. Sie hat zwei Söhne, einer hat eine Behinderung und lebt ebenfalls in einer Einrichtung des Oberlinhauses, der andere erkrankte zwischenzeitlich an einem Hirntumor.
Seit der Tat werden Bewohner*innen und Mitarbeitende seelsorgerisch betreut. Die Verarbeitung des Schmerzes stünde im Mittelpunkt der Aufarbeitung, heißt es in einer Erklärung des Oberlinhauses. Kein Urteil könne das Verbrechen und den Verlust auch nur ansatzweise abbilden: „Für das Oberlinhaus bleibt die Tat und das grenzenlose Leid, das damit über die Opfer und ihre Angehörigen gebracht wurde, unermesslich.“
In Vergessenheit geraten soll die Tat nicht. Auf dem Gelände des Oberlinhauses, wo derzeit nur die Adventsdekoration ins Auge fällt, soll ein Erinnerungsort für die getöteten Bewohner*innen installiert werden.
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