Prozesse gegen mutmaßliche KZ-Aufseher: Die Täter sterben aus
Der Prozess gegen einen Ex-SS-Mann steht auf der Kippe: Der 95-Jährige ist schwer erkrankt. Das ist symptomatisch auch für andere Verfahren.
In diesen Türmen tat auch Johann R. seinen Dienst, von 1942 bis 1944 im Konzentrationslager Stutthof östlich von Danzig. R. konnte auf die ausgemergelten Gefangenen blicken, er roch die Ausdünstungen des Krematoriums in der Nähe der Türme, und er nahm an den geselligen Abenden für das Personal teil, die im Gasthof Gerber im nahen Dorf Stutthof stattfanden, so etwa an der Heldengedenkfeier am 12. März 1944. „Noch mehr zusammenhalten, niemals untreu werden, noch mehr arbeiten und vor allem niemals feige werden“, gab der KZ-Kommandant die Parole für seine SS-Männer aus.
Johann R. will keinen einzigen Toten während seiner Dienstzeit im KZ erblickt haben. In Stutthof aber starben bis zum Kriegsende etwa 65.000 Gefangene.
Als Johann R. seinen Dienst beim SS-Totenkopfsturmbann antrat, war er 18 Jahre alt. Heute steht er in seinem 96. Lebensjahr und muss sich vor dem Landgericht Münster der Beihilfe zum Mord in mehreren hundert Fällen verantworten. Seine Tätigkeit als Wachmann habe dazu beigetragen, das systematische Morden in dem KZ zu ermöglichen, so lautet die Anklage.
Herzkrank und verhandlungsunfähig
Doch es könnte sein, dass der Angeklagte straffrei bleibt. Nicht, weil ihm eine Beihilfe zum Mord nicht nachgewiesen werden kann, sondern weil Johann R. seinem Verfahren nicht mehr folgen kann. Am Donnertag beschloss das Gericht, dass der Prozess vorläufig ausgesetzt wird. Johann R. liegt wegen einer schweren Herz- und Nierenerkrankung in einer Klinik und gilt deshalb als verhandlungsunfähig.
Ein medizinischer Gutachter soll ihn im Januar erneut untersuchen. Die Chancen für eine Genesung stehen nicht gut: Ein Gutachter sagte am Donnerstag, es sei nicht sehr wahrscheinlich, dass sich der Mann erhole.
Es wäre der erste Prozess gegen einen mutmaßlichen NS-Verbrecher seit vielen Jahren, der wegen der Verhandlungsunfähigkeit vorzeitig endet. Doch die Umstände des Münsteraner Verfahrens sind symptomatisch für die Versuche der deutschen Justiz, jetzt endlich die Verantwortlichen für den millionenfachen Mord in Lagern des Nazi-Regimes zu belangen. Den Ermittlern sterben ihre Beschuldigten weg.
Fälle in Hanau, Erfurt und München
Im hessischen Hanau war vor gut zwei Jahren schon alles vorbereitet für das Verfahren gegen einen 93-Jährigen, der als Wachmann in Auschwitz Dienst getan haben soll. Doch wenige Tage vor dem geplanten Prozessbeginn starb der Angeklagte eines natürlichen Todes. In Erfurt ermittelt die Staatsanwaltschaft derzeit gegen ehemalige SS-Angehörige, die in Buchenwald Dienst getan haben sollen. Die Recherchen gegen einen Teil der Beschuldigten mussten inzwischen eingestellt werden – sie gelten als nicht mehr verhandlungsfähig. In München musste die Staatsanwaltschaft vor einem Jahr ein Verfahren gegen Christel R. einstellen, die als Telefonistin in Stutthof gearbeitet hatte. Die 92-Jährige war verstorben.
Die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen im baden-württembergischen Ludwigsburg hat vor wenigen Tagen ihr 60-Jähriges Jubiläum begangen. Dort werden die Vorermittlungen vorgenommen. Anhand von Listen mit KZ-Personal überprüfen die Ermittler, ob Beschuldigte überhaupt noch am Leben sind und was während ihres Einsatzzeitraums im Konzentrationslager geschehen ist.
Die Ermittler müssen klären, ob sich eine „systematische Ermordung nachweisen lässt“, sagt dazu der Leiter der Ludwigsburger Behörde, Oberstaatsanwalt Jens Rommel. „Im 95 Prozent der Fälle sind die mutmaßlich Beschuldigten verstorben“, sagt er.
Je älter desto kränker
Bei einem Anfangsverdacht gehen die Informationen an die örtlichen Staatsanwaltschaften, die ihrerseits eine Anklageerhebung prüfen. Doch in den allermeisten Fällen kommt es gar nicht erst zur Anklage – die mutmaßlichen Mörder sind zu hinfällig. „Dieses Risiko erhöht sich mit wachsendem Alter dramatisch“, sagt Rommel.
Die reichlich späte Ermittlungswelle gegen KZ-Greise ist Ergebnis einer veränderten Rechtsauffassung. Jahrzehntelang galt der Grundsatz, dass nur verurteilt wird, wem ein individueller Mord nachgewiesen werden kann. So entkamen Tausende SS-Männer einer Verurteilung. Erst im Prozess gegen den Sobibor-Mann Iwan Demjanjuk urteilte das Münchner Landgericht vor sieben Jahren, dass die Anwesenheit in einem Todeslager zu einer Verurteilung ausreichen kann. Der Bundesgerichtshof billigte diese Entscheidung in einem ähnlich gelagerten Fall.
Noch werden weitere Prozesse vorbereitet. Derzeit gibt es nach Rommels Angaben neben den Verfahren gegen Johann R. in Münster bundesweit vier Anklagen gegen mutmaßliche NS-Verbrecher. Doch das endgültige Ende der juristischen Auseinandersetzung mit den Nazi-Morden ist absehbar. Die biologische Uhr tickt.
Vielleicht 2025, vielleicht ein Jahr später dürfte die Zentrale Stelle in Ludwigsburg ihre Ermittlungen einstellen, das geht aus Äußerungen aus dem baden-württembergischen Justizministerium hervor. Die Nazi-Ermittlungsbehörde soll zu einer Archiv- und Gedenkstätte umgewandelt werden. Die letzten Täter wären dann mindestens 100 Jahre alt.
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