Prozess gegen türkischen Journalisten: Erst beschossen, dann verurteilt
Der Chefredakteur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“ wird zu fast sechs Jahren Haft verurteilt. Und vor dem Gericht wird auf ihn geschossen.
Der Vollzug der Haftstrafen wurde von dem Gericht in Istanbul ausgesetzt. Sie sollen erst dann gültig werden, wenn sie vom Berufungsgericht überprüft wurden. „Wir werden weiterhin unsere Arbeit als Journalisten erledigen“, sagte Dündar nach der Urteilsverkündung. Daran könnten „alle Versuche, uns zum Schweigen zu bringen“, nichts ändern.
Vor der Urteilsverkündung war ein Anschlag auf Dündar verübt worden. Dündar blieb bei den Schüssen des Attentäters vor dem Gerichtsgebäude in Istanbul am Freitag unverletzt. Dündar sagte dem Sender CNN Türk in einem Telefonat über den Angreifer: „Aus nächster Nähe hat er geschrien, Du bist ein Vaterlandsverräter.“ Dündar und dem Hauptstadtkorrespondenten der Cumhuriyet, Erdem Gül, wird in dem hoch umstrittenen Prozess unter anderem Geheimnisverrat vorgeworfen.
Dündar sagte: „Ich kenne den Attentäter nicht, aber weiß sehr genau wer ihn ermutigt und mich zur Zielscheibe gemacht hat.“ Er hoffe, dass das Attentat denjenigen, die seit Monaten gegen ihn Stimmung gemacht hätten, „eine Lehre“ sei. Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP und besonders Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatten Dündar und Gül öffentlich immer wieder scharf angegriffen. Eine dpa-Reporterin berichtete, nach dem Anschlagsversuch sei Dündar von Anwälten umringt und in Begleitung seiner Ehefrau zurück ins Gericht gebracht worden.
Das Gericht hatte sich am Freitag zu Beratungen über das Urteil zurückgezogen, als es gegenüber vom Haupteingang des Justizgebäudes zu dem Attentat kam. Dündar sagte, er sei mit seiner Ehefrau auf dem Weg in ein Café gewesen, um dort auf die Urteilsverkündung zu warten.
Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie der in einen Anzug gekleidete Attentäter widerstandslos festgenommen wurde. CNN Türk berichtete, bei ihm handele es sich um einen im Jahr 1976 im zentralanatolischen Sivas geborenen Mann. Ein türkischer Journalist, der zur Berichterstattung vor dem Gerichtsgebäude war, sei durch einen Streifschuss leicht verletzt worden. Nach den Schüssen sei Panik ausgebrochen. Die Verhandlung sollte am Freitagabend nach Angaben von Dündars Anwalt Bülent Utku wie geplant fortgesetzt werden.
Anklage fordert 25 Jahre Haft
Der Prozess gegen Dündar und Gül war am Freitagvormittag in seine Schlussphase gegangen. Dündar-Anwalt Utku hatte vor Beginn der Verhandlung gesagt, eigentlich rechne er mit einem Freispruch. „Aber bei politischen Prozessen weiß man ja nie.“
Dündar und Gül wurden unter anderem die Veröffentlichung geheimer Dokumente sowie der versuchte Sturz der Regierung und die Unterstützung einer Terrororganisation zur Last gelegt. Die Staatsanwaltschaft hatte ursprünglich lebenslange Haft für die beiden Journalisten gefordert.
Zuletzt hatte die Anklage beantragt, die Vorwürfe der Terrorunterstützung und des Putschversuches in einem gesonderten Verfahren zu behandeln. Für den angeblichen Geheimnisverrat forderte sie 25,5 Jahre Haft für Dündar und zehn Jahre Gefängnis für Gül.
Hintergrund der Anklage ist ein Cumhuriyet-Bericht über angebliche Waffenlieferungen der Türkei an Extremisten in Syrien aus dem vergangenen Jahr. Staatspräsident Erdogan hatte Anzeige gegen Dündar und Gül erstattet. Sowohl Erdogan als auch der türkische Geheimdienst MIT wurden als Nebenkläger zugelassen.
Öffentlichkeit ausgeschlossen
Die Anklage war international als Schlag gegen die Pressefreiheit in der Türkei gewertet worden. Der Prozess hatte unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit am 25. März begonnen. Schon am ersten Verhandlungstag wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen, was zu scharfer Kritik führte.
Dündar und Gül verbrachten drei Monate in Untersuchungshaft, bevor das Verfassungsgericht Ende Februar ihre Freilassung anordnete. Erdogan hatte die Entscheidung des Obersten Gerichts mit den Worten kritisiert: „Ich sage es offen und klar, ich akzeptiere das nicht und füge mich der Entscheidung nicht, ich respektiere sie auch nicht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los