Provinz Berlin: Leipzig, meine Liebe
Leipzig ist schon lange kein Osten mehr. Vielleicht zieht es deshalb so viele Berliner dorthin. Wie unseren Autor.
1985, vor mehr als dreißig Jahren, bin ich zum ersten Mal nach Leipzig gefahren. Im Zug saßen Hippies im Norwegerpullover und zupften auf ihrer Gitarre, in Connewitz feierten wir Party in einer besetzten Wohnung. In der Wohnküche stand freistehend eine Badewanne. Wow, dachte ich. So hatte ich mir die DDR-Provinz nicht vorgestellt.
Heute weiß ich, dass ich von einer falschen Vorstellung ausgegangen war. Leipzig war weder zu DDR-Zeiten Provinz noch zuvor als Handels- und Messestadt, und auch nicht später nach der Wende, als es alle nach Berlin zog. Ich erinnere mich noch, wie mir ein Verleger 1991 sagte, dass nirgendwo so viele Bücher geklaut wurden wie auf der Buchmesse. Über die Westliteratur hatten die Leipziger den Anschluss an die Welt gehalten, während in Dresden längst die Lichter ausgingen. Die Folgen sieht man bis heute.
In den frühen nuller Jahren hat mich der Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar einmal durch den Leipziger Osten geführt. Wo einmal das Zentrum der deutschen Buchmacherkunst und des deutschen Verlagswesens war, herrschte die Tristesse einer schrumpfenden Stadt. Doch in Leipzig wurde nicht gejammert, sondern experimentiert. So entstanden Pocket-Parks, neue Grünzüge, auf manchen Brachen hätte man am liebsten Vieh weiden lassen. „Perforierte Stadt“ oder „Kern-Plasma-Modell“ nannten das Architekten und Planer. Es war der Versuch, Leipzig in die Zukunft zu retten, als man noch nicht wusste, ob diese Zukunft nun rostig sein würde oder rosig.
Auf jeden Fall war sie anders. In der Südvorstadt, in Schleußig und in Connewitz waren die Mieten noch bezahlbar, als sie in Prenzlauer Berg schon durch die Decke gegangen waren. In Plagwitz mit seinem Charme der industriellen Gründerzeit erprobte sich die prekäre Boheme – und stand in engem Austausch mit der in Berlin. Immer wieder habe ich Menschen kennengelernt, die immer wieder von Berlin nach Leipzig zogen und zurück oder am besten gleich in beiden Städten gelebt haben. So wie Berlin nach der Wende nicht mehr zum „Westen“ gehört hatte, war Leipzig längst dem „Osten“ entwachsen.
Immer wieder Neues zu entdecken
Wie Berlin ist auch Leipzig eine Stadt, in der es immer wieder Neues zu entdecken gibt. Die Gegend um den ehemaligen Eilenburger Bahnhof habe ich durch Clemens Meyers furiosen Neunziger-Jahre-Roman „Als wir träumten“ kennengelernt. Jedes Frühjahr, in dem ich durch die Aue streife, weiß ich, dass Berlin nie nach Bärlauch duften wird. Und manche Kieze wie Eutritzsch sind immer noch so dörflich wie Pankow oder Blankenburg.
In den Neunzigern bin ich einmal mit der Straßenbahn zum Tagebau in Markkleeberg gefahren und hatte, eine Bierbüchse in der Hand, auf die Abraumhalde geschaut. Nun bin ich manchmal am Markkleeberger oder am Cospudener See und staune, dass ich kaum mehr etwas wiedererkenne.
Nein, rostig ist die Gegenwart, die einmal ein Zukunftsversprechen war, nicht geworden, rosig aber auch nicht. Leipzig ist mitgewachsen mit den Herausforderungen, die es zu bewältigen hatte. Selbst den Umzug der Buchmesse vom Messehof am Markt in die gläsernen Messehallen hat die Stadt gewuppt. Nun ist der Nabel der Welt halt irgendwo draußen. Hauptsache, die Nabelschnur hält.
Leipzig ist immer kreativ mit Krisen umgegangen. Und immer wieder hat es sich neu erfunden. Es war eine Art Sehnsuchtsort für mich, ein Berlin im Kleinen, ein Versprechen, dass es jenseits meiner Stadt, in der ich seit 1983 lebe, immer noch einen Ausweichort gibt. Nun heißt es manchmal, Leipzig sei eine ganz normale Stadt geworden. Ich will es nicht glauben.
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