Provenienzforschung in Braunschweig: Der Patronengurt des Helden

Kaufleute und Militärs stifteten ihrer Stadt gerne erbeutete Trophäen. Das Museum nimmt jetzt diese historisch sensiblen Bestände ins Visier

In Uniform gekleidetet Mitglieder der Ovambanderu aus Namibia stehen an einem Tisch im Stadtmuseum Braunschweig

Eine Delegation der der Ovambanderu aus Namibia ist nach Braunschweig gereist Foto: dpa

BRAUNSCHWEIG taz | Das Städtische Museum Braunschweig hat seine ethnografische Sammlungspräsentation bis zum November kommenden Jahres geschlossen: Sie soll neu konzipiert werden. Natürlich denkt je­de:r sofort auch an Provenienzprobleme, also ungeklärte Umstände, unter denen Objekte außereuropäischen Ursprungs angeeignet der Sammlung einverleibt wurden, und an mögliche Restitutionsforderungen der Herkunftsländer – ein Thema, das aktuell derartige Sammlungen beschäftigt.

Mit 8.000–9.000 Stücken sind die ethnografischen Bestände in Braunschweig überschaubar. Allerdings ist die Quellenlage zur Herkunft der Objekte mager, wenn überhaupt vorhanden, so der Direktor des Städtischen Museums, Peter Joch. Der Auftrag des 1861 gegründeten Hauses war stets, Gesammeltes und Bewahrenswertes von Braunschweiger Bür­ge­r:in­nen als kulturelle, historische oder sozialgeschichtliche Zeugnisse der Stadtgesellschaft aufzunehmen und zu präsentieren.

Entsprechend breit gefächert ist die Sammlung. Sie umfasst etwa einen Salonflügel des örtlichen Herstellers Grotrian-Steinweg, den die Pianistin Clara Schumann einst zum Hausgebrauch erwarb, Malerei des 19. Jahrhunderts, die der Kunstverein zusammentrug, oder auch die Formsammlung, die der Künstler und Pädagoge Walter Dexel ab den 1940er-Jahren als Beispiele vorbildlichen Handwerksgutes angelegt hatte.

Widerstandskämpfer „entwaffnet“ und hingerichtet

Nach 1880 waren aber auch Objekte aus den deutschen Kolonien in Afrika ins Haus gekommen. Diese sind grundsätzlich als historisch sensibel einzuordnen. Kurt Strümpell (1876–1947), unter anderem von 1900 bis 1912 Offizier der „deutschen Schutztruppe“, also kolonialer Streitkräfte in Kamerun, vermachte dem Haus rund 700 Objekte. Weiteres Sammlungsgut stammt von Gustav Voigts (1866–1934), ab 1892 als Kaufmann im heutigen Namibia nachgewiesen, aber auch als Reserveoffizier. So befehligte er im Mai 1896 die Niederschlagung eines Aufstands der Bevölkerungsgruppe der Ovambanderu unter ihrem Anführer Kahimemua Nguvauva. Bevor dieser im Juni 1896 hingerichtet wurde, „entwaffnete“ ihn Voigts, indem er seinen Patronengurt an sich nahm. Bei einem Heimatbesuch 1898 soll Voigts den Gurt dem Museum übergeben haben – eine Trophäe, mit dem Vorbehalt persönlichen Eigentums. Offiziell vom Museum inventarisiert wurde das Stück deshalb nie.

In Namibia allerdings bewahrte sich das Wissen um den Gurt, wird Kahimemua Nguvauva doch dort als Nationalheld und früher Kämpfer gegen den Kolonialismus verehrt. Endgültige Gewissheit über die Authentizität des Stückes brachte dann Anfang November der Besuch einer 21-köpfigen Ex­per­t:in­nen­kom­mis­si­on aus Namibia, die das Material und seine Verarbeitung verifizierte, und auch in einem Feuerritual ihres Ahnen gedachte. Die Restitution des Patronengurts ist wohl nur mehr Formsache, er soll dem National­museum in Windhoek übergeben werden.

Mit den Landesmuseen Hannover und Oldenburg, dem Roemer-Pelizaeus-Museum in Hildesheim und der Ethnologischen Sammlung der Georg-August-Universität Göttingen ist das Städtische Museum Braunschweig im Verbundvorhaben Postkoloniale Provenienzforschung Niedersachsen, kurz PAESE, engagiert, das Ende 2018 seine Arbeit aufnahm. Die Grundlagenforschung zu den Erwerbswegen ethnografischer Bestände in Niedersachsen will in enger Kooperation mit Ver­tre­te­r:in­nen der jeweiligen Herkunftsgesellschaften auch den zukünftigen Umgang mit den beforschten Sammlungen und ihren Objekten klären, so die Ziele.

Neuanfang statt Verlust

Diese neue Sichtweise empfindet mögliche Restitutionsforderungen nicht mehr als Bedrohung und möglichen Verlust, sondern vielmehr als einen Neuanfang. Ethnologische Museen hätten sich überlebt, findet Joch, es ist Zeit, Gerechtigkeit walten zu lassen. Sie beginnt schon damit, Quellen sensibel und auch gegenläufig zu lesen. Denn was bedeutet es, dass ein Objekt aus einem „Nachlass“ stammt, wenn der ursprüngliche Besitzer hingerichtet wurde? Oder sogenannte „Gastgeschenke“: Wären traditionelle Herrschaftsinsignien wirklich freiwillig und so generös abgegeben oder doch mehr, um sich einen übermächtigen Kolonialherrn gewogen zu halten? Die Frage der Gerechtigkeit stellt sich auch im postkolonialen Kontext: Die Familie Voigts soll 70 Prozent des bewirtschaftbaren Landes in Namibia halten – eine Ungerechtigkeit bis heute, so Joch.

Seit 2020 vertritt der Ethnologe Rainer Hatoum die Provenienzforschung am Braunschweiger Haus. Er plädiert für individuelle Lösungen, einzigartig wie das Objekt selbst und seine Bedeutung für die Community, deren Geschichte, Identität und Seele es widerspiegelt. Der gleichberechtigte Dialog sei dafür Voraussetzung. Mit Ver­tre­te­r:in­nen Namibias ist er durch wechselseitige Besuche mittlerweile gut eingespielt. Zu Sammlungsbeständen aus Kamerun wurde der Dialog eröffnet: Ein offizieller Repräsentant der Königsfamilie der Bangwa, aus deren Gebiet viele Objekte der Sammlung Strümpell stammen, kam im Juli ins Museum.

Selbst umfangreiche Restitutionen würden nicht das Ende einer Sammlung bedeuten. Im Städtischen Museum Braunschweig sollen die Ovambanderu künftig ihre Geschichte selbst darstellen, aus ihrer Sicht erzählen. Das Haus wird zur Diskussionsplattform, vielleicht auch mithilfe außereuropäischer Künst­le­r:in­nen – ein offener Prozess der Welterklärung.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.